MB_1_2019

T H EMA 03 behrungen, Erniedrigungen und Misshandlungen. Im Anschluss bat Katharina Nusser (ZBFS – BLJA) die bei- den Zeitzeugen Jacqueline Irrgang und Joachim von Haxthausen aufs Podium. Zusammen mit dem Publi- kum diskutierten sie u. a. die Schwierigkeiten bei der eigenen Biografiearbeit. Viele Betroffene hätten keine Antworten auf Fragen über ihre Herkunftsfamilien oder die Gründe ihrer Heimunterbringungen bekommen, weil ihnen entweder die Auskunft verweigert wurde oder die Akten längst vernichtet worden waren. Als am Schluss die Frage gestellt wurde, was sie befähigt habe, all das zu überstehen, war eine Antwort: „Es gibt zwei Sorten von Menschen: Die einen kämpfen, die an- deren geben auf. Ich gehöre zur Sorte Kämpfer“. Differenziertere Ergebnissen lieferte die Studie des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) zu „Heimkin- dern zwischen 1949 und 1975 und die Beratungs- und Unterstützungsarbeit der bayerischen Anlaufstelle“. Die Sozialwissenschaft- ler des Münchner Instituts hatten den Zusammenhang zwischen Vorgeschichte (Zeit vor dem Heim), der Heimerfahrung und dem weiteren Lebensverlauf ebenso untersucht, wie die Beurteilung der Arbeit der Anlauf- und Beratungsstelle. Laut der IPP-Studie waren drei Viertel der Befragten mit der Arbeit der Anlauf- und Beratungsstelle zufrieden bis sehr zufrieden, 17,4 % äußerten sich teilweise zufrieden und ein Anteil von 7,4 % gab an, unzufrieden zu sein. Auf die Frage, welchen Zusammenhang es zwischen der Vorge- schichte (Zeit vor dem Heim) und der Heimerfahrung gibt und wie sich diese auf den weiteren Lebensverlauf auswirkte, fanden die Wissenschaftler Folgendes he- raus: Bei der Lebenszufriedenheit insgesamt lag der Anteil der Unzufriedenen zwischen 20 und 30 % und der der Zufriedenen immerhin zwischen 70 und 80 %. Interessant ist auch, dass 18,8 % der Befragten sich durch die Heimbiografie zwar stark belastet fühlten, trotz alledem aber sehr zufrieden bzw. zufrieden mit ihrem Leben sind. Im Anschluss fanden zeitgleich vier Workshops statt. Hier konnten die Teilnehmenden sich noch einmal in kleiner Runde austauschen. Persönliche Gespräche und Austausch stand auch für den Abend auf dem Programm. Dort wurde dann auch die Frage der besonderen Verantwortung der evangeli- schen Kirche und Diakonie diskutiert. Der zentrale Vor- wurf: Die evangelischen Institutionen hätten viel zu spät auf die sexuellen Missbrauchsvorwürfe reagiert. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp formulierte einen Appell, in dem er die Verantwortlichen aufforderte, die Aufklärungsarbeit unabhängig von Kirche und Diako- nie zu beschleunigen. Die politische Aufarbeitung stand dann auch im Zen- trum des zweiten Tages. Gleich zu Beginn sprach der CSU-Sozialpolitiker Joachim Unterländer über die ge- leistete politische Arbeit, die sich durch einen partei- übergreifenden Konsens ausgezeichnet hätte. Er forderte, dass das Thema Heimkindheiten weiter auf der politischen Agenda bleiben und finanziell unter- stützt werden müsse. Diese Forderung unterstützten auch die Zeitzeugen Sonja Djurovic und Richard Sucker. Sie beklagten in der anschließenden Diskussion im Forum u. a. die Aus- beutung durch erzwungene Arbeit, die viele ehemalige Heimkinder zum Beispiel in landwirtschaftlichen Betrie- ben hätten leisten müssen, ohne je dafür entschädigt worden zu sein. Einig waren sich alle Diskutanten, dass die Entschädigungssumme ohnehin zu gering ausge- fallen sei. Einen kritischen Blick auf den Fonds warf Prof. Man- fred Kappeler, Sozialpädagoge und Kinder- und Ju- gendpsychiater, indem er das Nicht-Erreichte herausar- beitete. So habe die Gesellschaft die ehemaligen Heim- kinder nie vorbehaltlos und umfassend rehabilitiert und ihnen auch eine angemessene materielle Entschä- digung verweigert. Viele Betroffene hätten die Leistun- gen des Fonds als „Abspeisung“ empfunden und sich deshalb gar nicht an die Anlauf- und Beratungsstellen gewandt. Viele der Anwesenden stimmten ihm zu, als er seinen Vortrag mit der Einschätzung, es gäbe noch viel zu tun, endet. Klaus Schenk, zuständiger Referent des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales be- richtete von der erfolgreichen Umsetzung des Fonds in Bayern, die immer von der Bestrebung getragen wor- den sei, den Betroffenen auf Augenhöhe zu begegnen und sie an dem Prozess zu beteiligen. Außerdem habe man Heimen bzw. deren Trägerverbänden die Vernich- tung von Akten untersagt, um die Betroffenen bei ihrer Suche nach den Spuren der Vergangenheit bestmög- lich unterstützen zu können. MITTEILUNGSBLATT 01-2019

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