Mitteilungsblatt 1/2020

M I T T E I L U N G S B L A T T 01-2020 16 Die Komplexität des europaweiten Diskussionspro- zesses kann an dieser Stelle nur vereinfachend wie- dergegeben werden. Die kurzen Auszüge sollen aber verdeutlichen, welche praktischen Schwierigkeiten die unterstützenswerte Idee einer Stärkung von Verfah- rensrechten mit sich brachte. Prämisse der RL (EU) 2016/800 war und ist, dass „Kinder, das heißt Personen unter 18 Jahren, 38 […] [gegen sie gerichtete Straf-] Verfahren verstehen, ihnen folgen und ihr Recht auf ein faires Verfahren ausüben können [müssen], um zu ver- hindern, dass sie erneut straffällig werden und um ihre soziale Integration zu fördern.“ 39 Ihnen soll darüber hin- aus eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, „um das Potenzial für ihre Entwicklung und Wiederein- gliederung in die Gesellschaft zu wahren.“ 40 Aus der Perspektive der Kinder- und Jugend- hilfe wesentliche Artikel der RL (EU) 2016/800 Die RL (EU) 2016/800 umfasst im Ergebnis 27 Artikel. Nicht alle davon sind relevant für die im Jugendstrafver- fahren mitwirkenden Fachkräfte der Kinder- und Ju- gendhilfe. Nachfolgend wurde deswegen eine Auswahl maßgeblicher Artikel getroffen, um veranschaulichen zu können, welche Vorgaben der Richtlinie im geänderten JGG ihren Niederschlag gefunden haben. Neben den bereits zitierten Artikeln 2 [Anwendungs- bereich] und 3 [Begriffsbestimmungen] sind aus der Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe vor allem die Artikel 4, 5, 7 und 15 relevant. So hat Artikel 4 [Aus- kunftsrecht] bspw. eine gewisse Scharnierfunktion. Er verpflichtet die Mitgliedsstaaten sicherzustellen, dass Kinder umgehend über ihre Rechte und über allgemeine Aspekte der Durchführung des Verfahrens unterrichtet werden, wenn sie davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Personen im Strafverfahren sind. Außerdem legt Art. 4 Abs. 1 fest, dass Kinder über die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte unterrichtet werden müssen und beschreibt für jedes einzelne Verfahrensstadium, wie diese Unterrich- tungen zu erfolgen haben. Mit aufgenommen wurde sogar eine Verpflichtung zur Aushändigung von Informa- tionsmaterialien in leichter und verständlicher Sprache. Beispielhaft sind aus Art. 4 Abs. 1 folgende Auskunfts- rechte zu nennen: • das Recht auf Unterrichtung des Trägers der elterli- chen Verantwortung, • das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbei- stand, • das Recht auf individuelle Begutachtung, • das Recht auf medizinische Untersuchung, ein- schließlich des Rechts auf medizinische Unterstütz- ung und • das Recht auf die Begrenzung des Freiheitsentzugs und auf Anwendung alternativer Maßnahmen, ein- schließlich des Rechts auf regelmäßige Überprüfung der Haft. Artikel 5 der RL (EU) 2016/800 ist überschrieben als „Recht des Kindes auf Information des Trägers der elter- lichen Verantwortung“. Er beschreibt zum einen, dass den Trägern der elterlichen Verantwortung „möglichst rasch“ (Abs. 1) diejenigen Informationen mitgeteilt werden, auf die das Kind gemäß Artikel 4 ein Recht hat. Zum anderen regelt er auch, wie Behörden damit umzu- gehen haben, wenn kein Träger der elterlichen Verant- wortung „nach Vornahme angemessener Anstrengun- gen“ (Abs. 2) erreicht werden kann oder seine Identität unbekannt ist. Artikel 5 Abs. 2 räumt dem „Kind“ unter gewissen Umständen zudem die Möglichkeit ein, dass es selbst einen „anderen geeigneten Erwachsenen“ benennt, um die notwendigen Informationen zu adres- sieren. Die genannten Umstände betreffen sowohl eine potenzielle Unerreichbarkeit des Trägers der elterlichen Sorge als auch die mögliche Konstellation, dass eine Unterrichtung des Trägers der elterlichen Sorge dem „Kindeswohl abträglich“ sein könnte, oder dass das Strafverfahren „aufgrund objektiver und tatsächlicher Umstände […] erheblich gefährdet“ sein könnte (Art. 5 Abs. 2 Alt. a und c). Ausgeschlossen ist gemäß Artikel 5, dass die Abwicklung eines Strafverfahrens gegen „Kinder“ von Beginn an ohne Mitwirkung bzw. Be- stimmung eines Trägers der elterlichen Sorge verläuft. Wobei in diesem Zusammenhang festzuhalten ist, dass keine beliebige dritte Person vom betroffenen „Kind“ benannt werden kann. Die benannte dritte Person muss durch die zuständigen Behörden akzeptiert werden. Im Einzelfall wird hier durch die involvierten Behörden abzuwägen sein, welche der genannten Varianten dem Recht des Kindes am ehesten entspricht. Sollte es den – in der Regel – Ermittlungsbehörden in diesem frühen Stadium des Verfahrens nicht gelingen, einen Träger der elterlichen Verantwortung oder eine dritte geeignete Person einzuschalten, ist ggf. „unter Berück- 38 S. Art. 3 RL (EU) 2016/800: „Kind“ [ist] eine Person im Alter von unter achtzehn Jahren.“ Ergänzend hierzu Art. 2 Abs. 5 RL (EU) 2016/800: „Diese Richtlinie berührt nicht die nationalen Vorschriften zur Bestimmung des Alters der Strafmündigkeit.“ 39 Amtsblatt der Europäischen Union I. 132, S. 1; 40 Amtsblatt der Europäischen Union I. 132, S. 2 I N F O

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