Mitteilungsblatt 1/2020

M I T T E I L U N G S B L A T T 01-2020 17 sichtigung des Kindeswohls“ eine „für den Schutz oder das Wohlergehen von Kindern zuständige Einrichtung“ zu involvieren (Art. 5 Abs. 2). In diesem Zusammenhang drängen sich für die Kinder- und Jugendhilfe vorrangig zwei Fragestellungen auf: 1. Decken sich die Definitionen des „Kindeswohls“ in RL (EU) 2016/800 und im Kinder- und Jugendhilfege- setz (SGB VIII)? 2. Welche „Einrichtung“ für „den Schutz oder das Wohlergehen von Kindern“ ist in Artikel 5 gemeint? Eine Beantwortung der Fragestellungen wird im Rah- men dieses Artikels schrittweise erfolgen. Vorab bleibt festzuhalten, dass die (örtlichen) Träger der Kinder- und Jugendhilfe nicht umhinkommen werden, entsprechende Strukturen vorzuhalten, die eine Umsetzung des Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren unter Berücksichtigung des „Kindes- wohls“ bzw. „Wohl des Jugendlichen“ ermöglichen. Korrespondierend zu Artikel 5 ist Artikel 15 der RL (EU) 2016/800. Während sich Artikel 5 im Wesentlichen auf das Vor- bzw. Ermittlungsverfahren bezieht, zielt Artikel 15 auf das „Recht des Kindes auf Begleitung durch den Träger der elterlichen Verantwortung während des [Haupt-] Verfahrens“ und hier speziell auf die Begleitung während einer Gerichtsverhandlung ab. Vergleichbar zu Artikel 5 wird in Artikel 15 in der Begleitung genauso auf die Parameter „Kindeswohl“, „Gefährdung des Strafver- fahrens“ wie auch „Geeignetheit“ des Trägers der elter- lichen Verantwortung bzw. einer anderen dritten Person abgestellt. Die Besonderheit des Artikel 15 ist, dass er eine Ausnahmeregelung für den Fall trifft, wenn • das Kind nicht durch einen Träger der elterlichen Verantwortung begleitet wird und das Kind keinen anderen geeigneten Erwachsenen benannt hat oder • wenn der vom Kind benannte Erwachsene von der „zuständigen Behörde“ nicht akzeptiert wird. In diesem Fall „bestellt die zuständige Behörde unter Berücksichtigung des Kindeswohls eine andere geeigne- te Person zur Begleitung des Kindes. Diese Person kann auch ein Vertreter einer Behörde oder einer anderen für den Schutz oder das Wohlergehen von Kindern verant- wortliche Einrichtung sein“ (Art. 15 Abs. 2). Neben den o. g. Fragestellungen, die es auch in diesem Kontext zu beantworten gilt, drängt sich hier die Frage auf, wie das Zusammenspiel der zu involvierenden Träger im Ernst- fall funktionieren kann – von einer Klärung des Mandats und der Rolle der nichtelterlichen Begleitperson ganz abgesehen. Artikel 7 der RL (EU) 2016/800 beschreibt das „Recht auf individuelle Begutachtung“. Auf der Grundlage die- ses Artikels haben die Mitgliedsstaaten sicherzustellen, dass „die besonderen Bedürfnisse von Kindern in Bezug auf Schutz, Erziehung, Ausbildung und soziale Integra- tion“ berücksichtigt werden (Art. 7 Abs. 1). Um diese Bedürfnisse befriedigen zu können, soll das betroffene „Kind“ einer individuellen Begutachtung unterzogen werden. Es sollen insbesondere Informationen über die Persönlichkeit und den Reifegrad, aber auch zum familiären Hintergrund und der sozioökonomischen Situation eingeholt werden. Zudem soll „spezifischen Schutzbedürftigkeiten“ des Kindes Rechnung getragen werden (Art. 7 Abs. 2). Die RL 2016/800 lässt an dieser Stelle leider offen, was genau unter dieser sog. Schutz- bedürftigkeit zu verstehen ist. Aus dem Gesamtzusam- menhang und der grundlegenden Berücksichtigung der VN-KRK im Rahmen der Richtlinie liegt der Schluss allerdings nahe, dass in den verwandten Begrifflichkei- ten eine hohe Deckungsgleichheit zur Terminologie der Kinder- und Jugendhilfe besteht. Gleichwohl muss hin- sichtlich der Definition von „Kindeswohl“ im Sinne des SGB VIII und „dem Wohl des Jugendlichen“ im Sinne des JGG abstrahiert werden. Artikel 7 definiert zudem, dass im Zuge einer individu- ellen Begutachtung auf die Besonderheiten des Einzel- falls abzustellen ist. Das heißt auch, dass „Umfang und Genauigkeit“ der ermittelten Informationen im Einklang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des jeweiligen Staates stehen müssen. Die Fragestellung dahinter lautet: Welche Informationen werden von der zustän- digen Behörde benötigt, um im Kontext des Jugend- strafverfahrens eine adäquate Entscheidung zur Person des „Kindes“ treffen zu können? Dementsprechend muss in jedem Einzelfall abgewogen werden, welche Informationen im Verfahren eingeholt werden müssen bzw. dürfen, um unter Berücksichtigung der Rechte des „Kindes“ eine angemessene Entscheidung treffen zu können. Letzteres schließt die Entscheidung darüber, ob spezifische Maßnahmen zugunsten des Kindes – inklusi- ve einer Bewertung präventiver Gesichtspunkte – ge- troffen werden müssen, mit ein. Zusätzliche Parameter des Artikel 7 zur Durchführung einer individuellen Begutachtung sind normativ gehalten und regeln den frühestmöglichen Zeitpunkt der Durch- führung (im Idealfall vor der Anklageerhebung), das Zu- sammenwirken verschiedener Professionen und deren Kompetenz („qualifiziertes Personal“ und „multidiszip- linäres Vorgehen“; Art. 7 Abs. 7) sowie den obligatori- I N F O

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