Mitteilungsblatt 1/2020

M I T T E I L U N G S B L A T T 01-2020 18 schen Einbezug von Trägern der elterlichen Verantwor- tung. Wichtig in diesem Zusammenhang erscheint der Hinweis, dass das Recht auf individuelle Begutachtung nicht statisch anzulegen ist, sondern prozesshaft organi- siert sein soll. „Wesentliche Änderungen der Elemente, die der individuellen Begutachtung zugrunde liegen“, unterliegen zudem einer Pflicht der kontinuierlichen Aktualisierung (Art. 7 Abs. 8). Weitere elementare Bestandteile der RL (EU) 2016/800, die mitunter wesentlich auf die Gestaltung von Jugend- strafverfahren Einfluss nehmen, sollen an dieser Stelle zumindest kurz genannt werden: • das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbei- stand (Art. 6), • die ggf. notwendige Durchführung einer audiovisuel- len Aufzeichnung der Befragung (Art. 9), • die geforderte Begrenzung des Freiheitsentzugs sowie der Ausbau von Maßnahmen zur Haftvermei- dung (Art. 10 und 11), • die besondere Behandlung bei Freiheitsentzug (Art. 12), • das grundsätzlich geltende Beschleunigungsgebot (Art. 13) sowie • das Recht von Kindern auf Anwesenheit in und akti- ver Teilnahme bei Verhandlungen (Art. 16). Wenn man die EU-Richtlinie 2016/800 mit dem vor 17. Dezember 2019 geltenden deutschen Jugendstrafrecht bzw. Jugendgerichtsgesetz (JGG) vergleicht, stellt man fest, dass beide Rechtsvorschriften in der intendierten Wirkungsrichtung einen hohen Deckungsgrad aufwei- sen. Trotz der vergleichsweise hohen Verfahrensstand- ards in Jugendstrafverfahren kam der bundesdeutsche Gesetzgeber nicht umhin, Anpassungen in den einschlä- gigen Spezialgesetzbüchern vorzunehmen, die eine Neuausrichtung im Handeln der beteiligten Institutionen bedingen. Alles neu und alles anders? Vorweg: Der aus § 52 SGB VIII resultierende und an das Jugendamt adressierte Auftrag, in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz mitzuwirken, hat sich nicht verändert. Immer noch hat das Jugendamt nach Maß- gabe der §§ 38 und 50 Abs. 3 des JGG mitzuwirken (§ 52 Abs. 1 SGB VIII), immer noch soll das Jugendamt frühzeitig prüfen, ob für den Jugendlichen oder den jun- gen Volljährigen Leistungen der Jugendhilfe in Betracht kommen, um im Zusammenwirken mit Staatsanwalt- schaft und Gericht frühzeitig bestimmen zu können, ob durch eine bereits eingeleitete oder gewährte geeignete Jugendhilfeleistung ein Absehen von der Verfolgung oder eine Einstellung des Verfahrens ermöglicht werden kann (§ 52 Abs. 2 SGB VIII). Immer noch sollen die zuständigen Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe den Jugendlichen oder den jungen Volljährigen während des gesamten Verfahrens betreuen (§ 52 Abs. 3 SGB VIII), geltend vom Bekanntwerden der Tat bis zum Abschluss des Vollstreckungsverfahrens. 42 Auch methodisch hat sich in der Anlage und Wahrneh- mung der Aufgaben nach § 52 SGB VIII i. V. m. §§ 38 und 50 Abs. 3 JGG erst einmal nichts verändert: Noch immer sind Gespräche mit jungen Menschen zu führen, die beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Noch immer sind Kinderschutzaspekte bei unter 18-Jährigen zu beachten und die Eltern bzw. Personensorgebe- rechtigten kontextuell einzubeziehen. Noch immer sind Daten zu erheben und zu verarbeiten. Und noch immer ist die in Jugendstrafverfahren mitwirkende Kinder- und Jugendhilfe angehalten, Termine bei Gericht wahrzuneh- men und im weiteren Verlauf Termine zu koordinieren, wenn es um Abstimmungsprozesse zwischen den be- troffenen jungen Menschen und anderen Institutionen bzw. Kooperationspartnern geht. Was sich speziell im Wortlaut des § 38 JGG geändert hat und mittelbar Einfluss auf die Aufgabenwahrneh- mung der in Jugendstrafverfahren mitwirkenden Kinder- und Jugendhilfe nimmt, sind bedeutungsschwere Begrifflichkeiten, die dem Duktus der RL (EU) 2016/800 entnommen sind, ohne dass diese im Kontext des Jugendstrafverfahrens konkret mit Inhalten hinterlegt wurden. Beispiele dafür sind der Zusatz der „besonde- ren Schutzbedürftigkeiten“ (Abs. 2 S. 2), wenn es um die Ermittlung persönlicher Verhältnisse geht, oder das „Wohl des Jugendlichen“ (Abs. 7 S. 1), an dem sich das gesamte Verfahren orientieren soll. Dass dies gerade in der Kinder- und Jugendhilfe Friktionen hinsichtlich eindeutig bestimmter Begriffe wie „Kindeswohl bzw. Kindeswohlgefährdung“, „Schutzauftrag und -konzept“ oder der Qualifikation „Insoweit erfahrener Fachkräfte“ mit sich bringt, ist folgerichtig, hilft aber nicht in der Operationalisierung der Aufgabenstellung. 41 Vgl. hierzu das am 13. Dezember 2019 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (BGBl. I S. 2128). 42 Vgl. ZBFS – Bayerisches Landesjugendamt (Hrsg.): Fachliche Empfehlungen für die Mitwirkung der Jugendhilfe in Verfahren nach dem Jugendge- richtsgesetz, München, 2013, S. 24 ff. I N F O

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