Mitteilungsblatt 1/2020

M I T T E I L U N G S B L A T T 01-2020 21 kriminologische Wissenstatbestände geführt werden. Gerade in den bayerischen Flächenlandkreisen, wo mitunter große Anfahrtswege zum Gerichtsort zurückzu- legen sind, aber auch in Stadtgerichtsbezirken, in denen mehrere Jugendrichter teils unabhängig voneinander ihre Sitzungen terminieren, wird die organisatorische Herausforderung darin liegen, die faktisch angelegten Unvereinbarkeiten einer personenbezogenen Teilnahme möglichst gering zu halten. Aufgrund kriminologischen Wissens ist dann noch abzuwägen, wie viel Einwirkung bzw. Begleitung durch eine Fachkraft der Jugendhilfe in Strafverfahren notwendig ist, um den Gedanken von Ubiquität, Episodenhaftigkeit und Spontanbewährung nicht entgegenzustehen. Was der Diskussion um fachliche Standards an dieser Stelle zusätzliche Brisanz bzw. Würze verleiht ist die Tat- sache, dass bei einer fehlenden Verzichtserklärung und Nichtteilnahme an der Hauptverhandlung „dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe“ etwaige Verfahrenskosten auferlegt werden können (vgl. § 38 Abs. 4 S. 3 JGG). Inwieweit rechtsdogmatisch und automatisch davon ausgegangen werden kann, dass spätestens zum Zeit- punkt der Hauptverhandlung in jedem Einzelfall fachlich fundierte Berichte vorliegen, muss angesichts des Er- messensspielraums darüber, wie die involvierten Träger der Jugendhilfe ihre Mitwirkungsaufgabe nach § 52 SGB VIII definieren, zumindest hinterfragt und im Zweifelsfall kooperativ abgestimmt werden. Zu empfehlen wäre beispielsweise eine Abstimmung unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls und eine Differen- zierung in Bezug auf Stellungnahmen zur Diversions- geeignetheit, dem kurzfristig erforderlichen Gutachten in Haftsachen und dem langfristig vorzubereitenden Bericht im Rahmen der Hauptverhandlung. 43 Völlig ungeklärt ist aus der Sicht der in Jugendstrafver- fahren mitwirkenden Kinder- und Jugendhilfe die Hand- habung des § 51 Abs. 6 JGG [Zeitweilige Ausschließung von Beteiligten]. Verkürzt wiedergegeben besagt dieser Paragraf, dass Eltern bzw. gesetzliche Vertreter für einen „nicht unerheblichen Teil“ von der Hauptverhand- lung ausgeschlossen werden können. Und sofern keiner anderen „für den Schutz der Interessen des Jugendli- chen geeigneten volljährigen Person“ die Anwesenheit gestattet wird, hat ein „für die Betreuung des Jugendli- chen in dem Jugendstrafverfahren zuständiger Vertreter der Jugendhilfe“ anwesend zu sein. Im Gegensatz zum Referentenentwurf hat der Bundesgesetzgeber hier zu- mindest erkannt, dass dieser Vertreter der Jugendhilfe aufgrund von Rollendiffusion und unklarer Auftragssitua- tion nicht zugleich der Vertreter der Jugendgerichtshilfe sein kann. Wer aber diese Funktion konkret wahrneh- men kann und wer dies zeitnah im Rahmen der Haupt- verhandlung (oder bereits im Vorfeld) organisatorisch auf den Weg bringen soll, bleibt offen. Ein Blick nach vorn – notwendige Neuausrich- tung des Praxisfelds Der eingangs skizzierte Fahrplan der EU-Richtlinie über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafver- fahren sind, und dessen Umsetzung im bundesdeut- schen Jugendstrafrecht zeigt, dass eine Befassung mit tradierten Diensten und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe wie auch vermeintlich etablierten Quali- tätsstandards nottut. So gilt es nicht nur, das Praxisfeld unter qualitativen Gesichtspunkten zu entwickeln, vielmehr müssen Strukturen in Einrichtungen und Diensten neu angelegt und in Kooperation neu ausge- legt werden. Dass die notwendige Entwicklung neuer Strukturen und Kooperationsbeziehungen nicht von heute auf morgen vollzogen werden kann, liegt auf der Hand. Dafür bietet das neue JGG noch zu viele unbe- kannte bzw. nicht eindeutig bestimmte Variablen, z.B. in Bezug auf die Vergleichbarkeit von „Kindeswohl“ und „Wohl des Jugendlichen“ oder die Umsetzung von Elternrechten und Rechten von „Trägern der elterli- chen Verantwortung“. Hier wäre eine Harmonisierung der Begrifflichkeiten sicher sinnvoll gewesen, um Missverständnissen vorzubeugen und keine Unsicher- heiten bei der Kinder- und Jugendhilfe hinsichtlich kin- derschutzrelevanter Aspekte zu produzieren. Müßig ist es in diesem Zusammenhang leider auch, die fehlende Umsetzung des Art. 20 RL (EU) 2016/800 zu bemän- geln, nämlich die Schulung von Strafverfolgungsbehör- den in Bezug auf „Rechte von Kindern, geeignete[n] Befragungsmethoden, Kinderpsychologie und die Kommunikation in einer kindgerechten Sprache“, um der geforderten „besonderen Sachkunde“ Rechnung zu tragen. Wie dem auch sei, die Bemühungen des Bundesgesetz- gebers um eine Steigerung des Grades der Verbindlich- keit in der Kooperation zwischen den in Jugendstrafver- 43 Vgl. Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAGLJÄ) zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vom 29.11.2018. Download unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsver- fahren/DE/Staerkung_Verfahrensrechte_Beschuldigter_Jugendstrafverfahren.html. Letzter Zugriff am 09.03.2020. I N F O

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