Mitteilungsblatt 1/2020

M I T T E I L U N G S B L A T T 01-2020 09 Wie bei allen Formen jugendlicher Auffälligkeit spielt Öf- fentlichkeit eine zentrale Rolle. Erst wenn sie hergestellt ist, wirken Subkulturen bedrohlich, finden öffentliche Auseinandersetzung statt und es kommt günstigenfalls zu sozialpolitischen Reaktionen. 9 Das könnte bedeuten, dass die sinkende Anzahl von Jugendlichen einer immer stärkeren Form des Ausdrucks bedarf, um öffentliches Interesse zu erhalten und gesellschaftliche Veränderun- gen zu erwirken. „Jugendkultur wird dann zum Thema, wenn sie gel- tende soziale Strukturen infrage stellt und durch ab- weichende Orientierungen oder Verhaltensformen auffällt.“ 10 Vergemeinschaftung Mannigfaltige Pluralisierungs- und Individualisierungs- prozesse kennzeichnen unsere Gesellschaft. Diese Prozesse bedingen, dass die herkömmlichen Verge- meinschaftungsangebote der primären und sekundären Sozialisation dem steigenden Bedarf nach sozialer Ge- borgenheit immer weniger gerecht werden. Daher wer- den neue Vergemeinschaftungsformen gesucht und in Jugendszenen gefunden. Der Vorteil ist, dass es keine tradierten Verbindlichkeitsansprüche gibt. Regelungen des Ein- und Austritts sind selbstbestimmt. Die neuen Vergemeinschaftungsformen in Jugendszenen sind thematisch fokussierte Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und mentale Formen der kollekti- ven Selbst-Stilisierung teilen, um diese Teilhabe wissen und die diese Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren, modifizieren oder transformieren. Sie fungieren als habituelle, intel- lektuelle, affektuelle und vor allem ästhetische Gesin- nungsgenossenschaften. 11 Ausdifferenzierung von Jugendkulturen in Jugendszenen In den klassischen Jugendkulturen wie z.B. Hip-Hop und Punk fand zeitgleich eine Ausdifferenzierung statt und es entstanden viele neue, kleine, kulturelle Gruppierungen auch jenseits jugendkultureller Spe- zifität (etwa die Fanclubs von „Lindenstraße“, „Star Trek“ oder „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ sowie Szenen, die sich über das Internet formieren, wie etwa die Programmierer, Hacker, Online-Rollenspielerinnen und -spieler etc.). Es wird von 300 Jugendszenen, Strömungen und Subströmungen 12 gesprochen und konsequenterweise wäre der Begriff Jugendkultur mit dem Begriff der Ju- gendszene zu ersetzen. In der Jugendforschung tauchte der Begriff „Szene“ im Zuge der Entwicklung des Subkulturansatzes Mitte der 1990er Jahre fast beiläufig auf. Dieter Baacke hatte schon vorher von „Szenen“ gesprochen. Dies wurde in der Jugendkulturforschung auch aufgegriffen aber kaum definiert und theoretisch begründet. Die Stärke des Szenebegriffs besteht darin, dass er vor dem Hintergrund eines Strukturwandels der Gesellschaft den veränderten und pluralisierten Lebens- lagen, -formen und -stilen Rechnung tragen kann. 13 Zur Verdeutlichung sind hier Kennzeichen zusammenge- stellt, die eine Trennschärfe zu den Begriffen Jugendkul- tur und Jugendszene ermöglichen: - Jugendkulturen sind selektiv (aussondernd), exklu- dieren (ausschließlich), weisen einen verbindlichen Bezugsrahmen mit verbindlichen Beziehungen auf. Jugendkulturen haben einen relativ geschlossenen Interaktionskontext, in dem mittels spezifischer Prak- tiken eine von der gesellschaftlichen Gesamtkultur abweichende, gemeinsame Weltsicht und kollektive Identität erzeugt und gesichert wird. - Jugendszenen haben eine amorphe Form von locke- rer Gemeinschaft mit unbestimmt vielen Beteiligten. Entscheidend ist, dass Jugendliche sich selber als zu- gehörig zu dieser Szene (oder mehreren Szenen) be- greifen, sowie freiwillig ein- und austreten. Jugends- zenen sind ein vergemeinschaftender und symbolisch markierter Erlebnis- und Selbststilisierungsraum. Ein thematisch fokussiertes Netzwerk von Personen, die bestimmte materiale und mentale Formen der kollektiven Selbst-Stilisierung teilen. Jugendszenen existieren an typischen Orten zu typischen Zeiten. Unabhängig von der Bestimmung von Jugendkulturen und Jugendszenen gibt es viele Systematisierungsversuche. So unterscheiden sich politische und religiöse Jugendkul- turen, Jugendkulturen mit gemeinsamen ethnischen Merk- malen und/oder aktions- und gewaltorientierten Praktiken, jugendkulturelle Gruppen, die auf besondere mediale Ereignisse (z.B. Daily- Soap-Fans, LAN-Szene) oder sporti- ve Praktiken (z.B. Fußballfans, Skater) Bezug nehmen und institutionell integrierte jugendkulturelle Gruppierungen (z.B. die Feuerwehr- oder DLRG-Jugend). 14 9 Simon; 10 Quelle: Pfaff; 11 Simon; 12 Simon; 13 Ebenda; 14 Ferchhoff I N F O

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