Mitteilungsblatt 3/2020

M I T T E I L U N G S B L A T T 03-2020 10 Zu Beginn skizzierte Ulrike Lein die – aus ihrer Sicht – wesentlichen Belastungsfaktoren für Kinder und Jugendliche, die in einer extrem bedrohlichen Atmo- sphäre leben, selbst wenn sie „nur“ Zeugen der Gewalt und nicht selbst direkt von der Gewalt betroffen sind. Diese Kinder fühlen sich oft schuldig, weil sie vermuten, selbst der Auslöser des Streits und der Gewalt zwi- schen ihren Eltern zu sein. Vor allem ältere Kinder und Jugendliche nehmen mitunter bei Gewaltausbrüchen der Eltern die Rolle als Schutzperson für die kleineren Geschwister ein, aber auch für den von Gewalt betroffe- nen Elternteil. Sie übernehmen leicht zu viel Verantwor- tung für elterliche Aufgaben. Zusätzlich belastend für die Kinder sei auch ein vermeintlicher Loyalitätsauftrag, den die Kinder im Bewahren des Familiengeheimnisses verspüren. Die Auswirkungen dieser Belastungssituationen reichen bei den Kindern von Verhaltensauffälligkeiten, Entwick- lungsstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten über Essstörungen und Drogenmissbrauch bis dazu, dass sie selbst Täter oder Opfer in späteren Beziehungen werden können. Kinder benötigen daher möglichst zeitnah zu dem (trau- matisierenden) Miterleben der Gewalt einen sicheren Ort und einen geschützten Rahmen. Erst dann ist es möglich, mit dem Kind die Gewalterlebnisse aufzuarbei- ten, das Selbstwertgefühl zu stärken und andere hilfrei- che Ressourcen aufzubauen. Im Mittelpunkt sollte die Unterstützung des Kindes stehen, eigene Schutz- und Bewältigungsstrategien sowie eine Meinung zu entwi- ckeln, ob und in welcher Art und Weise es Umgang mit dem gewaltausübenden Elternteil haben möchte. Die Kinderfachberatung der ILM bietet für eben diese Bedarfe für Kinder und Jugendliche ein ausgefeiltes Portfolio an Hilfen an, die teilweise zu denselben Zeiten, in denen die Mutter in der Beratung der ILM ist, für deren Kinder durchgeführt werden können. Die Hilfen reichen von der proaktiven Einzelberatung direkt nach dem Einsatz der Polizei über die „ressourcenaktivie- rende Kurzzeitberatung“ nach der Trennung der Eltern bis hin zu Gruppenangeboten, wie beispielsweise den „Superhelden“. Ergänzt wird diese kinderspezifische Unterstützung durch die Präventions- und Öffentlich- keitsarbeit der Kinderfachberatung der ILM, mit dem Ziel, gut vernetzte und abgestimmte Kooperationen zwischen Kinder- und Jugendhilfe, Schulen, Kinderta- geseinrichtungen, Frauenunterstützungseinrichtungen und weiteren Facheinrichtungen vor Ort zu erreichen. Übergreifendes Ziel all dieser Initiativen ist es, den Kindern und Jugendlichen ein Leben ohne Gewalt zu ermöglichen. Kinderschutz bei häuslicher Partnerschaftsgewalt benö- tigt eine strukturelle Verankerung der Expertise „Häusli- che Gewalt“ in dem jeweiligen Hilfesystem. Für einen gelingenden Kinderschutz in der Kooperation ist laut Ulrike Lein ein einheitlicher Kenntnisstand aller relevanten Professionen (Fachkräfte des Jugendam- tes, Familiengerichte, Verfahrensbeistände, Träger und Fachkräfte der freien Jugendhilfe, Frauen- und Männe- runterstützungseinrichtungen, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Schule, Polizei, etc.) über die Auswir- kungen von häuslicher Gewalt auf Kinder und Jugendli- che notwendig. Neben Informationen und Fortbildungen für alle Akteurinnen und Akteure im Kinderschutz, wies Ulrike Lein besonders auf die Vorteile einer strukturel- len Verankerung der Expertise in der Organisation des Jugendamtes in Form eines Fachdienstes oder eines „Kompetenzträgers für häusliche Gewalt“ hin. Außerdem sei es unabdingbar, grundsätzlich jede Mit- teilung von häuslicher Gewalt, bei der Kinder direkt oder indirekt mitbetroffen sind, als Mitteilung einer Kindes- wohlgefährdung zu prüfen. In der anschließenden Diskussion im Workshop wurden für die bedarfsgerechte Unterstützung von Kindern und Jugendlichen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, außerdem noch folgende bewährte Praktiken benannt: • je nach Zielgruppe – die Einbindung der Koordinie- renden Kinderschutzstellen (KoKi) oder der Jugend- sozialarbeit an Schulen (JaS) – neben der einzelfall- bezogenen Kooperation – auch in die übergreifenden Austauschforen und Fortbildungsaktivitäten zum Thema „Häusliche Gewalt“, • die Erstellung eines Leitfadens für die Kommune zum Thema „Wer macht eigentlich was im Land- kreis, wer hat welche Angebote für von häuslicher Gewalt Betroffene?“, • die Schaffung spezieller, kindgerechter Räume für die Beratung und Betreuung von Kindern in Frauen- häusern, • der Ausbau der Kinderbetreuung und der aufsuchen- den Erziehungsberatung in den Frauenhäusern. Als Herausforderungen in der Kooperation und Hand- lungsbedarfe wurden unter anderem benannt: • die Personalfluktuation bei Gerichten, bei der Kinder- und Jugendhilfe und beim Frauenunterstützungssys- temen, • Kapazitätsengpässe bzw. Wartelisten bei beiden Hilfesystemen, B E R I C H T E

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