Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen

1. Rahmenbedingungen

Der Weg ins Heim

Die Unterbringung in Behinderteneinrichtungen wurde ab 1961 in der BRD durch das Jugendwohlfahrtsgesetz und die Paragraphen §1666, §1695, § 1909 des BGB geregelt. Vormundschaftsgerichte und Behörden hatten dabei großen Spielraum. Kinder und Jugendliche mussten nicht gefragt werden, Eltern konnte sogar das Sorgerecht entzogen werden, um eine Einweisung durchzusetzen. Medizinische oder heilpädagogische Ursachen, Entlastung der Familie oder Ablehnung der Eltern waren Gründe für die Unterbringung. Zudem boten bis in die 1970er Großeinrichtungen oft die einzige schulische Förderung für geistig behinderte Kinder. Das allein war dann Grund für deren Unterbringung im Heim.

Entscheidend für die Unterbringung war oft die Verfügbarkeit von Plätzen, während individuelle Bedürfnisse wenig Beachtung fanden. Hauptsächlich die Grundversorgung musste gesichert sein. Platzmangel führte häufig zu Fehlplatzierungen in psychiatrischen Kliniken, Krankenhäusern und Pflege- und Altenheimen.

2. Leid und Unrecht im Heimalltag

Bis in die 1970er Jahre waren die Einrichtungen für Menschen mit Behinderung geprägt von streng geregelten Abläufen, Isolation, kontrollierten Briefen und begrenztem Kontakt nach außen. Beschwerden über die Missstände führten zu Sanktionen. Raum- und Personalmangel, marode Gebäude und Überbelegung beeinträchtigten die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen. Privatsphäre, Förderung und therapeutische Begleitung gab es in der Regel nicht. Erst ab den 1970ern wurde vermehrt qualifiziertes Personal eingesetzt und die Zustände in den Einrichtungen besserten sich.

Verweigerung von Individualität und Lebensgestaltungsmöglichkeiten

Im Heimalltag dominierte eine bevormundende Haltung des Personals, die die Individualität und Selbstbestimmung der Kinder behinderte. Erziehung diente primär der Disziplinierung.

Finanzknappheit in den Einrichtungen führte dazu, dass Kinder und Jugendliche hauswirtschaftliche Arbeiten ohne Bezahlung verrichten mussten. Die Schulbildung war nachrangig. Wichtiger war, dass die Arbeiten in den Einrichtungen erledigt wurden. Dies änderte sich in den 1970er Jahren, da von nun an ein differenziertes Sonderschulsystem eingeführt wurde und es nun in allen Bundesländern eine Schulpflicht für Menschen mit Behinderung gab.

Medizinische Gewalt

Medizinische Untersuchungen und Behandlungen der Kinder waren in der Regel fremdbestimmt und die Kinder fühlten sich ausgeliefert. Über deren Sinn und Zweck wurden sie oft nicht aufgeklärt. Schmerzhafte Behandlungen, Medikamentengabe und freiheitsbeschränkende Handlungen (wie z. B. Fixierungen) wurden angewendet. Die mangelnde Aufklärung über die Anwendungen führte zu Ängsten bei den Kindern.

Pädagogische Gewalt

Körperliche und psychische Bestrafungen waren im Heimalltag häufig. Die Atmosphäre war von Angst geprägt. Gewaltformen waren vielfältig, von körperlicher bis sexualisierter Gewalt.

Fazit

Langzeitunterbringung hatte massive und dauerhafte Folgen für die Biografien der Kinder und Jugendlichen. Sie waren oft von der Außenwelt abgeschottet, was das Risiko gewaltsamer Handlungen erhöhte. Vernachlässigung und Reizarmut führten zu Schäden und Verhaltensstörungen. Kinder hatten kaum die Möglichkeit, Potenziale zu entwickeln. Mangelnde Anerkennung führte zu Beeinträchtigungen des Selbstbewusstseins, was sie in der Regel ihr ganzes Leben begleitete. Oftmals wurde die Beziehungen zur Familie durch die Fremdunterbringung langfristig gestört, was auch nach der Unterbringung häufig anhielt.

Weiterlesen:

Fangerau, H.; Dreier-Horning, A.; Hess, V.; Laudien, K.; Rotzoll, M. (Hrsg.) (2021): Leid und Unrecht. Kinder und Jugendliche in Behindertenhilfe und Psychiatrie der BRD und DDR 1949 bis 1990.

Fangerau, H. (Auftragnehmer), Dreier-Horning, A.; Hess, V.; Laudien, K.;  Rotzoll, M.: Forschungsbericht: "Wissenschaftliche Aufarbeitung des Leids und Unrechts, das Kinder und Jugendliche in den Jahren 1949 bis 1975 (BRD) bzw. 1949 bis 1990 (DDR) in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in stationären psychiatrischen Einrichtungen erfahren haben.“

mdr.de, selbstbestimmt: Interview mit Prof. Karsten Laudien: Wie Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Heimen lebten: "Satt, sauber, trocken"