Antrittsbesuch des Jugendamts beim Umzug von Pflege-familien
In seiner Entscheidung vom 21. Oktober 2004 hat sich der 3. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) im Zusammenhang mit einer Schadensersatzforderung eines vernachlässigten und misshandelten Pflegekindes zu den Pflichten des Jugendamts bei Zuzug einer Pflegefamilie geäußert. Im Ergebnis konnte ein Schadensersatzanspruch des Betroffenen aus Amtspflichtverletzung auch deshalb bejaht werden, weil das nach einem Umzug der Pflegefamilie für das Pflegekind zuständig gewordene Jugendamt pflichtwidrig einen "Antrittsbesuch" unterlassen hat.
In dem fraglichen Fall informierte das bis dato zuständige Jugendamt die Kollegen am neuen Wohnort über den Umzug der Pflegefamilie und bat unter Zusicherung der Kostenerstattung um Übernahme des Hilfefalles. Die Übernahme der Zuständigkeit wurde jedoch verweigert, weil nicht sicher sei, ob der weitere Aufenthalt des Klägers bei seinen Pflegeeltern überhaupt von Dauer sein werde. Die leibliche Mutter habe sich nämlich geweigert, einen vom bislang zuständigen Jugendamt ausgearbeiteten neuen Hilfeplan zu unter schreiben und erklärt, sie sei mit der Unterbringung des Kindes in der Pflegefamilie nicht einverstanden. Nach einer sich über Jahre hinziehenden schriftlichen Auseinandersetzung der beiden Jugendämter über die Frage der örtlichen Zuständigkeit kam es zu einem Hilfeplangespräch, in dessen Verlauf die leibliche Mutter letztlich in den weiteren Verbleib ihres Sohnes bei den Pflegeeltern eingewilligt hatte. Darauf erklärte sich das nunmehr zuständige Jugendamt zur Übernahme der Zuständigkeit bereit. Als später ein Pflegekind an Unterernährung verstarb, stellten sich Misshandlungen und Vernachlässigungen auch der übrigen Pflegekinder in der besagten Familie heraus.
In seiner rechtlichen Bewertung des Falles führt der BGH zunächst aus, das Jugendamt der beklagten Gebietskörperschaft sei mit dem Umzug der Pflegefamilie gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII von Gesetzes wegen und ohne Übernahmeentscheidung für den Hilfefall zuständig geworden. Das Kind habe sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als zwei Jahren in der Obhut der Pflegefamilie befunden und der weitere Aufenthalt sei wegen der Verhältnisse in der Herkunftsfamilie auf Dauer zu erwarten gewesen. Die Unterschriftsverweigerung der Mutter und ihre bloße Äußerung, sich beim Vormundschaftsgericht um eine Rückkehr des Kindes bemühen zu wollen, stehe dem nicht entgegen, da deren Ernstlichkeit nach allen Umständen des konkreten Falles in Zweifel zu ziehen war. Dies hätten die Mitarbeiter der beklagten Gebietskörperschaft schon im Zeitpunkt des Übernahmeersuchens, spätestens aber nach Eingang des Hilfeplans erkennen müssen. Insoweit habe auch keine Zuständigkeit des bisher tätigen Jugendamts mehr bestanden. Zwar müsse bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit der bisher zuständig gewesene Träger seine Leistungen gemäß § 86c SGB VIII noch so lange fort setzen, bis der neue Träger seinerseits die Leistung auf nehme. Bei der Vorschrift des § 86c SGB VIII handle es sich aber nicht um eine Zuständigkeitsregelung, sondern allein um eine materielle Anspruchsgrundlage zu Gunsten des Leistungsberechtigten.
Die Verweigerung der Übernahme der Leistungspflichten sei auch pflichtwidrig gewesen. Insbesondere sei das nunmehr zuständige Jugendamt gehalten gewesen, sich möglichst bald vor Ort einen unmittelbaren Eindruck von der Pflegefamilie zu verschaffen. Dabei sei für die Prüfung der Fortführung der Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 33 SGB VIII insbesondere eine kindgerechte Anhörung des betroffenen Kindes zu dessen Zustand und Erwartungen geboten gewesen, zumal dessen Mitwirkung gemäß § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII ausdrücklich vorgesehen sei. Konkret führt der BGH aus: "Als Minimum an laufender Überprüfungstätigkeit hätte eine Eingangsüberprüfung stattfinden müssen, um sich dem Kind als Ansprechpartner bekannt zu machen und aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse das weitere Vorgehen gegebenenfalls neu festlegen zu können (...). Allein auf die Angaben der Pflegeeltern hätte ein verantwortungsbewusster Mitarbeiter des Jugendamts nicht vertrauen dürfen". Auch könne sich das nunmehr zuständige Jugendamt nicht notwendigerweise auf Angaben und Einschätzungen des früheren Jugendamtes verlassen. Zwar sei den Bediensteten des Beklagten nach dem Übergang der Zuständigkeit ein gewisses "Überlegungs- und Nachforschungsrecht" zuzubilligen (so dürften zunächst weitere Informationen eingeholt und der Eingang des Hilfeplans abgewartet werden). Eine Prognoseentscheidung hätte aber bald (konkret: zwei Monate!) nach Eingang des Hilfeplans getroffen werden müssen. In jedem Fall sei das Jugendamt gehalten gewesen, sich zeitnah zum Zuständigkeitswechsel ein persönliches Bild von dem betroffenen Kind zu machen und sich über die Lebensumstände vor Ort bei der Pflegefamilie zu vergewissern. Schließlich gehe mit dem Umzug einer Pflegefamilie - mit dem damit verbundenen Wechsel der für das Kind oder den Jugendlichen zuständigen Betreuungspersonen - stets auch eine Änderung ihrer Lebensumstände einher. Insoweit könne eine Kontrolle schon zur Überprüfung der neuen Wohnsituation angezeigt sein. Auch wenn diese Umstände für sich nur im Ausnahmefall zu einer Abkehr von den grundsätzlichen Zielsetzungen des bisherigen Hilfeplans oder gar zu einer Herausnahme des Kindes führen dürften, gebe es im Regelfall durchaus Anlass, die Lebensverhältnisse des betreuten Kinde; oder Jugendlichen einer erneuten Kontrolle zu unterziehen. Dabei müsse auch und gerade ein persönlicher Kontakt mit dem Pflegekind hergestellt werden. Denn nur so könne sich das Jugendamt hinreichend zuverlässig ein Bild darüber verschaffen, ob das Kindeswohl auch weiterhin gewährleistet sei.
Die Frage des somit zwingend erforderlichen "Antrittsbesuchs" wurde inzwischen von den Adoptionsvermittlungsstellen auch für den Bereich der Adoptionspflege aufgeworfen. Freilich wird die o. g. Entscheidung mangels unmittelbarer Vergleichbarkeit der Adoptionspflege mit einer Hilfe zur Erziehung nicht direkt auf diese übertragen werden können. Gleichwohl ist der hinter dem Urteil stehende Grundgedanke ohne weiteres auch im Bereich der Adoptionspflege von Bedeutung. Auch hier geht es um die Begleitung sich in der Entwicklung befindlicher familiärer Verhältnisse. Unabhängig von der Situation eines Umzuges sollte es daher in jedem Fall zu den Standards der Adoptionsvermittlungsstellen gehören, in Begleitung der Adoptionspflegezeit laufenden Kontakt zu den künftigen Adoptivfamilien zu halten. In der Situation eines Umzugs der Adoptionsbewerber wird eine fachgerechte Begleitung der Adoptionspflege auch erfordern, das künftig zuständige Jugendamt entsprechend zu informieren bzw. bei Erkenntnissen über einen Zuzug Kontakt zu den entsprechenden Bewerbern aufzunehmen (§ 7 Abs. 1 AdVermiG). Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden ohnehin im Zuge der späteren gutachterlichen Stellungnahme an das Vormundschaftsgericht von wesentlicher Bedeutung sein.
Jörg Reinhardt
aus: ZBFS - Bayerisches Landesjugendamt Mitteilungsblatt 2/2005