Bericht des Jugendamts der Stadt Nürnberg
Individualpädagogische Auslandsbetreuungen bzw. "erlebnispädagogisch" orientierte Individualmaßnahmen im Ausland als ein methodischer Baustein der Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII) sind als Hilfen zur Erziehung (und Eingliederungshilfe) Langzeitprojekte. Ihre methodisch-fachlichen Ziele liegen im erzieherischen Problemfeld zwischen der offenen Heimerziehung einerseits und der geschlossenen therapeutischen Unterbringung andererseits.
Diese individualpädagogischen Betreuungen im Ausland sind ins Gerede gekommen. Boulevardzeitungen unterstellen, es würde sich um teure Urlaubs- und Erholungsprojekte am Mittelmeer oder an schwedischen Seen handeln, mit denen kriminelle Jugendliche auch noch für ihre "Untaten" auf Kosten der Steuerzahler verwöhnt und belohnt würden.
Begünstigt werden Fehlinformationen durch den Fachbegriff "Erlebnispädagogik", mit dem in unserer Freizeitgesellschaft eher Spaß, Vergnügen, Urlaub assoziiert werden, nicht aber die besondere Form psychosozialer Isolation und Zuwendung mit dem Ziel der Vermittlung von neuen Lern- und Grenzerfahrungen. Aber auch in der sozialpädagogischen Fachdiskussion wird der Begriff der Erlebnispädagogik völlig unscharf und beliebig verwendet, so dass Irritationen gar nicht ausbleiben können. Hier geht es um die Arbeit mit herausragenden Einzelfällen hoher Dissozialität und Unangepasstheit, bei denen die Hoffnung besteht, dass diese jungen Menschen durch eine intensive Einzelbetreuung für Verhaltens- und Lebensänderungen wieder ansprechbar werden könnten. Dabei wird auch deutlich, dass "erlebnispädagogisch" orientierte Angebote, bei denen für einen normalen Jugendlichen womöglich der Unterhaltungs- und Abwechslungswert im Vordergrund steht, für die hier beschriebenen Jugendlichen harte Anstrengung darstellen, weil sie nachhaltig gefordert sind, in komprimierter Form zu lernen und Sozialverhalten nachzuholen.
Was leisten aber diese umstrittenen Betreuungen tatsächlich? Welchen Stellenwert haben sie in der Jugendhilfe? Ein Bericht des Stadtjugendamts Nürnberg vermittelt hierzu interessante Informationen.
Fakten über erfolgte individualpädagogische Betreuungen im Ausland
° In den 3 ½ Jahren zwischen Januar 1996 bis Juni 1999 wurden in Nürnberg 16 Maßnahmen in höherer Intensität und/oder über einen längeren Zeitraum als individualpädagogische Betreuung im Ausland durchgeführt - jährlich also 3 bis 5 Fälle. Zum Vergleich: in Nürnberg leben ca. 80.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren; durchschnittlich befinden sich pro Jahr 550 Kinder/Jugendliche in Heimen.
° Im gleichen Zeitraum waren 18 Kinder/Jugendliche in sog. geschlossener Unterbringung.
° Der Jahresvergleich zeigt ein relativ konstantes Verhältnis von durchschnittlich 0,7 % individualpädagogische Auslandsbetreuungen zu den Heimunterbringungen. Bundesweit liegt ihr Anteil bei 1,9 %.
° Die Betreuungen im Ausland wurden für Kinder (bis 14 Jahre) und Jugendliche (14 - 18 Jahre) gewährt, nicht als Hilfen für junge Volljährige nach § 41 KJHG.
° 14 der 16 Kinder/Jugendlichen (87,5 %) in diesen Auslandsbetreuungen sind männlichen Geschlechts und ebenso viele sind deutsche Staatsangehörige.
° Der prozentuale Anteil der Auslandsbetreuungen an den Kosten für Heimunterbringungen und für andere Formen der Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung lag bei:
- 0,36 % in 1996
- 1,68 % in 1997
- 1,50 % in 1998
- 0,95 % in der 1. Hälfte 1999.
° Der Anteil an den Gesamtkosten aller 3 ½ Jahre beträgt 1,47 Mio. DM von 102,3 Mio. DM = 1,45 %.
Kriterien und Zuweisungsgründe für individualpädagogische Auslandsbetreuungen
Neben der Mitwirkungsbereitschaft und dem Interesse des jungen Menschen an Hilfe sind wichtige Kriterien:
- große zeitliche, räumliche und kulturelle Distanz zum Herkunftsmilieu;
- die mit der Entfernung und der Notwendigkeit von Fremdsprachenkenntnissen verbundenen geringeren Möglichkeiten des Ausreißens;
- klare Strukturen eines relativ streng geregelten und begleiteten (beaufsichtigten) Arbeits- und Lernprogramms;
- körperliche Betätigung in konkreter Arbeit (z. B. Waldarbeit, Landwirtschaft, Handwerk und Selbstversorgung/Haushaltsführung), und zwar unter einfachsten Lebensumständen mit geringen zivilisatorischen Ausstattungen (Abenteuereffekt, aber auch Effekt des Wachsens des Selbstbewusstseins beim Durchstehen dieser widrigen Lebensumstände).
Zuweisungsgründe sind:
- Schwierigkeiten des jungen Menschen, tragfähige soziale Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen;
- Perspektivlosigkeit im persönlichen Leben (Einsamkeit, keine Arbeit, kein Einkommen, keine Erfolgserlebnisse, fehlende Schulabschlüsse);
- aggressives und/oder wiederholt kriminelles Verhalten, Selbstgefährdung;
- Notwendigkeit der Herauslösung aus allen Bezügen zum bisherigen Milieu und der Notwendigkeit des Aufbaus von Eigenverantwortung und neuer Beziehungen.
Pädagogische Ziele
Welche Ziele werden mit den Betreuungen im Ausland angestrebt, was soll in der Persönlichkeitsentwicklung positiv beeinflusst oder geweckt werden?
- Selbstvertrauen aufbauen und Konfliktfähigkeit trainieren (also z. B. bei Widerspruch nicht immer gleich zuzuschlagen);
- Beziehungsfähigkeit aufbauen (z. B. Gruppenfähigkeit für eine spätere Integration in Heim- oder Wohngruppenerziehung oder die Rückkehr in die Familie);
- Willensstärke und Ausdauer trainieren;
- für Verantwortungsgefühl und Rücksichtnahme sensibilisieren;
- Motivierung durch Erfolgserlebnisse;
- abweichende Lebenskreisläufe im Elternhaus und in Cliquen durchbrechen und neue trainieren;
- Bedürfnisse aufschieben lernen;
- Entscheidungskompetenz sowie Eigen- und Fremdverantwortung fördern;
- sich für Lernen und Interessen öffnen (kognitives Wissen und systematische praktische Fähigkeiten vermitteln).
Entscheidungsmaximen
Welche Entscheidungsmaximen bieten Gewähr, dass keine ungezielten, willkürlichen, ungeprüften und zu großzügigen Entscheidungen über die geringen Haushaltsmittel der Stadt getroffen werden?
- Wirtschaftlichkeit des Handelns ist immer zu beachten. Eine Prognose, ob eine beantragte Hilfe die fachlich notwendige und geeignete sein mag, ist nicht immer eindeutig und ohne Zweifel möglich. Für alle gewährten Hilfen zur Erziehung müssen erkennbare, nachvollziehbare und vertretbare Gründe vorliegen.
- Gewissenhafte Prüfung, ob eine beantragte Hilfe tatsächlich notwendig ist, und wenn dies zutrifft, ob sie tatsächlich geeignet ist oder wenigstens die Annahme begründet ist, dass sie geeignet sein könnte.
- Nach einer vorher festgelegten Zeitspanne Überprüfung, ob die gewährte Hilfe Erfolge zeigte oder eine Verlängerung durch sich abzeichnende Erfolge begründbar ist.
- Entscheidungen darüber, ob bei einer beantragten Hilfe zur Erziehung möglicherweise eine andere geeignet und notwendig sein könnte, bleiben nicht den einzelnen sozialpädagogischen Fachkräften überlassen. Hilfsmöglichkeiten werden in den sog. Ergebniskonferenzen im Zusammenwirken verschiedener sozialpädagogischer Fachkräfte und Fachdienste erörtert. Dabei haben die Vertreter der Abteilung Wirtschaftliche Jugendhilfe die Aufgabe der Mitberatung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten und der Plausibilitätskontrolle im Einzelfall übertragen bekommen.
"Großzügige" Entscheidungen nach der Vorstellung, im Zweifel lieber eine Hilfe zu gewähren als zu versagen, nur weil die Hilfe ja nichts schaden kann, waren und sind in Nürnberg nicht üblich und nicht möglich, da im Hilfeplanverfahren Kontrollmechanismen integriert sind wie die Trennung von Veranlassung und Durchführung der Hilfe.
Entscheidungen, die nicht zum Erfolg führen, können allerdings nicht vermieden werden. Letztlich erweist sich die wirksamste Hilfe auch als die wirtschaftlichste.
Erzielte Ergebnisse
Von den 16 Kindern und Jugendlichen in Auslandsbetreuungen haben 8 mit positivem und davon 3 mit sehr positivem Ergebnis teilgenommen, bei 8 Kindern und Jugendlichen dagegen ist kein Erfolg eingetreten
Wenn man die 16 Fallkonstellationen betrachtet, bei denen im Vorfeld Heimunterbringungen und andere Hilfen durchgehend gescheitert waren, soziale und seelische Dissozialität die Persönlichkeiten prägte, so überrascht, dass durch die veranlassten Betreuungen im Ausland doch 50 % der Fälle mit einer eindeutig positiven Verhaltensänderung - der Grundlegung für weitere erzieherische Einwirkungen -ausgingen.
Darüber hinaus sind unter den acht als "ohne Erfolg" ausgewiesenen Fällen zwei Fälle gesondert zu beachten. Diese Maßnahmen scheiterten, weil die Bemühungen des freien Trägers in einem fachlich-organisatorischem Chaos endeten.
Eingedenk der damit einhergehenden negativen Auswirkung auf die weitere Motivation der beiden Jugendlichen, bei denen aufgrund der Rahmenbedingungen keine positive Wirkung mehr zu erreichen war, kann das Instrument "erlebnispädagogisch orientierte, d. h. individualpädagogische Betreuung im Ausland" bei den Nürnberger Fällen insgesamt als erfolgreich herausgestellt werden. Das Ergebnis von 50 % entspricht ungefähr den in einer Evaluationsstudie bei 250 Jugendämtern ermittelten Einschätzungen (s. a. Mitteilungsblatt Nr. 3/99, S. 6 - 9).
Wie indifferent und wenig analysierbar erfolgversprechende Kriterien in Erziehungsprozessen sind, zeigen zwei der 16 Fälle. Zwei Geschwisterkinder zeigten die gleiche Entwicklung in den Auffälligkeiten wie Schulschwänzen, Stehlen, Flucht aus allen Beziehungen und Einrichtungen, Straßenkinder - alles schon in jüngsten Jahren. Beide Kinder sind in Auslandsbetreuungen vermittelt worden: bei einem Kind wurde dadurch keine erkennbare Verbesserung seiner Symptomatik und Verhaltensweisen erzielt, dagegen beim anderen deutlich positive Entwicklungen.
Fallbeispiel 1: geb. 1981
Maßnahme
Seit 1 Jahr individualpädagogische Auslandsbetreuung in einer italienischen Familie.
Grund der Entscheidung
Seit 1996 ist die Familie bei ASD/Jugendamt bekannt mit eskalierenden Problemen: zerrüttete Verhältnisse zwischen Kind und Familie, Schulschwänzen, Einbruchdiebstähle, Raubhandlungen, Drogenkonsum, Straßenkind, Bahnhofsmilieu, Rotlicht-Szene, Haft, Flucht aus intensivtherapeutischer Gruppe in Oberbayern.
Die Eltern verweigern von Anfang an die Mitwirkung, stellen keine Anträge auf Hilfe zur Erziehung - dann wieder doch. Das Kind verweigert ebenfalls eine Mitwirkung; dann wünschen beide Teile wieder konkrete Hilfe. Anträge des Jugendamts vor dem Vormundschaftsgericht müssen zurückgezogen werden.
Nach Haft 1998 dann Mitwirkungsbereitschaft von Eltern und Kind. Fachkräfte des Sozialdienstes der Justizvollzugsanstalt schlagen eine individualpädagogische Betreuung im Ausland vor. ASD und Jugendamt sehen in dieser Maßnahme eine letzte Möglichkeit zur erzieherischen Einwirkung.
Zwischenergebnis: sehr positiv
Kind stabilisiert sich in italienischer Familie; entwickelt starke Bindung an Betreuerfamilie;
besucht regelmäßig die Schule; besteht die deutsche Quali-Prüfung mit 2,6; will nun durch Einzelunterricht mittleren deutschen Bildungsabschluss nachholen.
Kosten
Tagessatz: 270,- DM
Fallbeispiel 2: geb. 1981
Maßnahme
2 Monate Spanien: 1999 (Ende 8/99) individualpädagogische Auslandsbetreuung in fester Wohnform mit klaren Tages-, Wochenplänen (3 Stunden Arbeit: Tierhaltung, handwerkliche, landwirtschaftliche und Baumaßnahmen; 3 Stunden Beschulung, Freizeit und Wochenende immer miteinander).
Grund der Entscheidung
Mit 4 Jahren in heilpädagogische Einrichtung. 1997 Wechsel in Einrichtung mit angegliederter E-Schule, weitere Heimstationen mit jeweiligen Beziehungswechseln.
Der Jugendliche konnte die Anforderungen des heiminternen Berufsvorbereitungsjahres nicht erfüllen. Er neigte zu Suizidgedanken, Selbst- und Fremdaggressionen und setzte immer stärker Alkohol als Problemlöser ein. Ein Psychiater diagnostizierte Alkoholabusus (alkoholbedingten Kontrollverlust), emotionale instabile Persönlichkeitsentwicklung und schlug stationäre Unterbringung in einer Jugendpsychiatrie vor. Eine Gestalttherapeutin schlug Alkoholtherapie in klinischer Einrichtung vor.
Den Vorschlag, in eine Therapieeinrichtung zu gehen, negierte der Jugendliche. Nach weiterer Eskalation seiner Auffälligkeiten erklärte er sich bereit, sich einer Betreuung im Ausland zu stellen, und zwar mit den Zielen: Veränderungsbereitschaft wecken, Be- und Verarbeitung seiner Lebensgeschichte, Entwicklung von Selbstwertgefühl, Vorbereitung auf eine berufliche Ausbildung als Maler/Lackierer.
Ergebnis: negativ
Nach einem guten Beginn (er arbeitete gut mit, griff in problematischen Situationen nicht mehr zum Alkohol und reagierte weniger aggressiv) kam es wieder zu Verweigerungen und eklatanten Regelverstößen.
Maßnahme wurde 1998 beendet.
Kosten
Tagessatz: 250,- DM
Fallbeispiel 3: geb. 1986
Maßnahme
Seit 8 Monaten Auslandsbetreuung (Gruppenprojekt) eines deutschen freien Trägers in Andalusien auf einer alleinliegenden Farm, reizarme Umgebung, isolierte Lage. Beschäftigung mit Restaurierungsarbeiten an den dazugehörenden Häusern, Mithilfe bei Gärtner- und landwirtschaftlichen Arbeiten, lebenspraktische Aktivitäten wie Kochen, Einkaufen, Brennholz machen, klar geregelte Tagesabläufe, wenig Freizeit. Interne Beschulung.
Grund der Entscheidung
Als Kleinkind vom älteren Bruder zum Betteln mitgenommen und zeitweise auf der Straße lebend. Schwierigkeiten mit Nähe und Distanz zu Personen. Später in der Schule aggressiv, wenig leistungsbereit und -fähig, kaum anwesend; sexuell auffälliges Verhalten. Im Folgenden bis 1997 vierzig Vorgänge bei der Polizei; Tatverdacht auf schwere Diebstähle; mehrmals Vermisstenmeldung bei und Aufgriff durch die Polizei. Verdacht auf sexuelle Missbrauchserlebnisse und Konsum von Drogen. Mutter von mehreren Kindern nahm keinen erkennbaren gezielten erzieherischen Einfluss.
Ambulante Maßnahmen (Hort, Kleingruppentherapie, sensomotorische Gruppe in Kindergarten, Besuche der Erziehungsberatung) in frühen Jahren führten zu keinen erkennbaren Veränderungen. Zwei Heimunterbringungen wurden wegen häufigem Entweichen abgebrochen. Verweigert Rückkehr zur Mutter.
Einzige Hoffnung auf erzieherische Einwirkungsmöglichkeiten bei dem Kind (12 ½ Jahre) wurde in der Entfernung von der Familie in "unüberwindbarer" räumlicher Distanz gesehen.
Ergebnis: offen
Das Kind will bis auf weiteres bleiben, wird auf eigenen Wunsch beschult mit nur langsamen Fortschritten; scheint sich auf einen geordneten Lebensalltag einzulassen. Das Kind bleibt aber eine gefährdete Persönlichkeit, mit geringer Frustrationstoleranz und Defiziten bei Konfliktlösung und Beziehungsfähigkeit.
Kosten
Tagessatz: 303,70 DM
Alternativen - gibt es diese und sind sie kostengünstiger?
Im heutigen zur Verfügung stehenden Hilfesystem der Jugendhilfe konnte das Nürnberger Jugendamt für diese 16 Fälle keine konkret praktizierbaren Alternativen sehen.
In jedem Einzelfall waren die "normalen" Hilfen zur Erziehung bereits erfolglos durchlaufen worden.
Bei der Methodik dieser individualpädagogischen Betreuungen im Ausland als Hilfe zur Erziehung handelt es sich nicht um eine "normale" Hilfe zur Erziehung, sondern eher um ein "finales Rettungskonzept" (Arbeitsgemeinschaft für Erziehungshilfe, AFET Heft 40, 1992), das in bestimmten Einzelfällen möglicherweise noch positive Verhaltens- und Lebensänderungen bewirken kann.
In den 16 Fällen gingen die sozialpädagogischen Fachkräfte davon aus, dass es gute Gründe für die Hoffnung gab, mit einer individualpädagogischen Auslandsbetreuung möglicherweise doch noch erzieherische Einwirkungen und Veränderungen bewirken zu können. Diese 16 Fälle hinterließen im konkreten Kontakt der Fachkräfte mit den Kindern und Jugendlichen vor Entscheidung über die Maßnahme den Eindruck der persönlichen Ansprechbarkeit und des Interesses an Hilfe.
In vielen anderen Fällen mit ähnlichen Symptomatiken sind dagegen zeitweise keine Hilfen mehr möglich, weil die Ansprechbarkeit der Kinder und Jugendlichen und deren Bedürfnis nach Hilfe latent oder auf Dauer verschüttet sind. Diese Kinder und Jugendlichen sind zum Teil bekannt, z. B. als Besucher der Inobhutnahme und des Sleep-In; andere bevölkern Straßen, Plätze, Parks, den Bahnhof als sog. Straßenkinder, als Stricher und Prostituierte, zum Teil als Obdachlose, Alhohol- oder Drogenabhängige, tatverdächtige Mehrfach- und/oder Intensivtäter.
Im Unterschied zu diesen Einzelfällen ohne aktuelle Zugangsmöglichkeit war die Alternative "nichts mehr zu tun" in den 16 Fällen fachlich nicht vertretbar. Kostengünstigere Alternativen sind nicht bekannt. Unabhängig davon sind individualpädagogische Betreuungen im Ausland im Vergleich zur "normalen" Heimerziehung nicht wesentlich kostenintensiver bzw. im Vergleich zur "geschlossenen therapeutischen Unterbringung" sogar kostengünstiger.
Geschlossene Unterbringung - eine geeignete Alternative?
Ohne Zweifel werden individualpädagogische Betreuungen im Ausland manchmal auch als fachliche Alternative zur therapeutischen geschlossenen Unterbringung eingesetzt.
Aber nur für die wenigsten der 16 Kinder und Jugendlichen und diejenigen, die mehr oder weniger häufig den Kinder- und Jugendnotdienst oder das Sleep-In in Nürnberg für kurze Zeit aufsuchen, wäre eine sogenannte geschlossene Unterbringung geeignet gewesen - wenn es die geschlossene Unterbringung in ausreichender Platzzahl mit entsprechender Konzeption zum Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung oder des Bedarfs in der Vergangenheit gegeben hätte.
Auch für eine geschlossene Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung ist eine wichtige Voraussetzung, dass das Kind oder der Jugendliche in einem gewissen - wenn auch zu Anfang eingeschränkterem - Maße Interesse, Bereitschaft, Ansprechbarkeit zeigt und der Träger mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwarten kann, das Kind zur Mitwirkung bewegen zu können. Gesicherte Unterbringung kann in Ausnahmefällen notwendig und sinnvoll sein, wenn sie in Verbindung mit einer fachlich qualifizierten erzieherischen Intensivbetreuung angewandt wird und eine vorhergehende multiprofessionelle Anamnese/Diagnose dieses Ziel erbrachte.
Verhältnismäßigkeit der Kosten
Hat eine Kommune rechtlich die Möglichkeit, aus Kostengründen notwendige und geeignete Hilfen zu verweigern?
Der Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung gibt wichtige Handlungsvorgaben, die den Ausschluss begründeter Hilfen durch die Kommune verbieten:
- wenn der junge Mensch und der Personensorgeberechtigte eine Hilfe suchen und bereit sind - ggf. zum wiederholten Mal - , die fachlichen, persönlichen Anforderungen der angemessenen Hilfe zu akzeptieren;
- obwohl die angemessen erscheinende Hilfe teuer ist und die Stadt sparen muss;
- obwohl der einzelne junge Mensch oder/und die Personensorgeberechtigten sich in der Vergangenheit jeglicher Hilfsangebote verweigert hatten oder begonnene Hilfeverfahren mehrmals abgebrochen haben;
- obwohl der junge Mensch Straftäter ist oder als Kind (Strafunmündigkeit) als Mehrfach/- oder Intensivtäter auftritt oder als Tatverdächtiger gilt.
Der Beurteilungsrahmen darüber, ob eine geeignete Hilfe im Verhältnis zu einer anderen ebenfalls geeigneten Hilfe (z. B. Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder im Heim) mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist, ist in der Rechtsprechung nicht eindeutig festgehalten. Nach entsprechenden Gerichtsurteilen liegt die Spanne zwischen 25 - 30 % an Mehrkosten, die von der Verwaltung des Jugendamts hinzunehmen sind.
Wichtig ist natürlich auch, dass die kostengünstigere Maßnahme überhaupt bedarfsgerecht zur Verfügung steht. (Muss ein Kind z. B. ins kostenintensive Heim, wenn eine fachlich angemessene und deutlich kostengünstigere Vollzeitpflegestelle nicht zur Verfügung stünde?)
Nachteile von individualpädagogischen Auslandsbetreuungen als Hilfen zur Erziehung
° Trotz Nachbetreuung können Jugendliche nach der Rückkehr in das häusliche Umfeld wieder in die alten Schwierigkeiten und die gewohnte Destruktivität zurückfallen, da ein Transfer des möglicherweise Erlernten in den hiesigen Alltag nicht gelingt.
° Auslandsbetreuungen sind fehl am Platz, wenn sie lediglich zur Überbrückung von Lücken im Hilfesystem benutzt werden.
° Individuelle Ansätze haben wenig Aussicht auf Erfolg, wenn das soziale Umfeld, in das die jungen Menschen zurückkehren, unverändert bleibt.
° Die Jugendämter haben aus der Distanz kaum pädagogischen Einfluss und müssen darauf vertrauen, dass die Maßnahmenträger vor Ort gute Arbeit leisten, d. h. es gibt kaum Kontroll- und Aufsichtsmöglichkeiten.
(Anmerkung d. Red.: Zu den Kriterien der Zusammenarbeit s. a. Mitteilungsblatt Nr. 3/99, S. 6 - 9.)
Bezüglich des letzten, äußerst wichtigen Punkts - der Abhängigkeit von den unkontrollierbaren Leistungen der "Anbieter" - schrieb die Nürnberger Referentin für Jugend, Familie und Soziales an Frau Staatsministerin Barbara Stamm am 18. Oktober 1999 u. a.:
"Sie sprechen ... einen besonderen Problempunkt an, nämlich die manchmal nicht erkennbare fehlende Fachlichkeit und Verlässlichkeit der anbietenden freien Träger von erlebnispädagogischen Maßnahmen. Mir scheint unbedingt eine verlässliche und regelmäßige Qualitätskontrolle der Träger und der Maßnahmen vor Ort, insbesondere im Ausland, durch eine Zentralstelle in den Bundesländern (z. B. das Landesjugendamt) unabdingbar, denn die Jugendämter können dies einzeln und alleine nicht erkennen und leisten."
Herbert Bystrich
Hinweise zu individualpädagogischen Angeboten
Beschluss der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAGLJÄ) in der 75. Arbeitstagung vom 13. - 15.10.1993 in Oberwiesenthal
"Folgende Rahmenbedingungen sollten beachtet werden:
1. Hilfeplan
Der Hilfeplan wird vom Jugendamt unter Mitwirkung des betroffenen Jugendlichen, den Personensorgeberechtigten und der durchführenden Träger aufgestellt. Sind Personensorgeberechtigte und Eltern nicht identisch, sollten die Eltern dennoch beteiligt und es sollte gegen ihren Willen grundsätzlich nicht entschieden werden.
Im Hilfeplanverfahren wird die Art der Hilfe entsprechend dem erzieherischen Bedarf des jungen Menschen erörtert. Es muss deutlich werden, inwiefern das vorgeschlagene individualpädagogische Angebot die Problemlösung für die besondere Lebenslage der Jugendlichen ist oder Möglichkeiten für eine Problemlösung eröffnet.
Der Hilfeplan muss ferner zu folgendem konkrete Aussagen enthalten:
- Ziel / pädagogischer Auftrag;
- Dauer der Maßnahme;
- Umfang und konkreter Auftrag der Vorbereitungs- und Kennenlernphase;
- Zwischenlösungen, falls kein Träger zur Verfügung steht bzw. der vorgesehene Träger nicht in der Lage ist, die Maßnahme unmittelbar zu beginnen;
- Informationsfluss zwischen den Beteiligten (Jugendlicher/Betreuer, durchführende Stelle/Träger, Personensorgeberechtigte/Eltern und Jugendamt) während der Maßnahme; Zeitpunkte und Verantwortlichkeiten für die Informationen sind vor Beginn konkret zu vereinbaren;
- Abklärung der schulischen Situation und ggf. Einleitung und Durchführung der (ggf. vorübergehenden) Ausschulung;
- Abklärung, ob Ermittlungsverfahren laufen oder Strafverfahren anhängig sind; ggf. ist die Zustimmung von Staatsanwaltschaft bzw. Gericht zwingende Voraussetzung für die Durchführung eines individualpädagogischen Angebots im Ausland;
- bei beabsichtigten Maßnahmen im außereuropäischen Ausland Abklärung, ob das Zielland als sicher gilt (ggf. Anfrage beim Auswärtigen Amt).
Die Hilfeplanung muss auch die Zeit nach dem individualpädagogischen Angebot einbeziehen. Ein bruchloser, geplanter Übergang ist unabdingbar.
2. Träger von Maßnahmen
Die Träger benötigen Erfahrungen in der erzieherischen Jugendhilfe. Sie müssen - soweit sie eine Einrichtung der Jugendhilfe bzw. eine sonstige betreute Wohnform betreiben - über eine Betriebserlaubnis nach § 45 KJHG verfügen oder als juristische Person anerkannter freier Träger nach § 75 KJHG sein.
Einzelbetreuungen müssen über bekannte und erfahrene Maßnahmeträger abgesichert werden. Unter Einzelbetreuung wird hier das Angebot einzelner Fachkräfte zur Durchführung einer individualpädagogischen Maßnahme in Eigenregie verstanden. Der Träger gewährleistet Beratung, Supervision sowie Krisenintervention und eine nachfolgende Betreuung.
Bei Trägern, die ausschließlich im Ausland tätig sind bzw. bei ausländischen Trägern ist die Einschätzung der pädagogischen und wirtschaftlichen Kompetenz oft nicht ohne weiteres möglich. Das Landesjugendamt sammelt und bündelt im Rahmen seiner Beratungsaufgaben nach § 85 Abs. 2 Nr. 5 KJHG Informationen und Erfahrungswissen und stellt es den örtlichen Trägern zur Verfügung.
Neben der Beurteilung schriftlicher Selbstdarstellungen und Konzepte ist vom Träger zu erfragen, durch welche im Ausland zuständige Behörde er in welcher Weise kontrolliert wird. Bei der zuständigen Behörde sollte, soweit möglich, eine Stellungnahme erbeten werden. Diese sollte sich auch auf die im betreffenden Land vereinbarte oder übliche Praxis der Kostenermittlung und Abrechnung beziehen.
Betreut der Träger bereits Minderjährige aus dem Zuständigkeitsbereich von Jugendämtern der Bundesrepublik, sind bei diesem entsprechende Informationen abzufragen.
Sind über die oben dargestellten Quellen ausreichende Informationen zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit nicht zu erhalten, sollte durch das Landesjugendamt in Absprache mit dem örtlichen Träger die Möglichkeit einer Beurteilung vor Ort abgeklärt werden.
3. Fachkräfte
Für die Fachkräfte gilt als Grundforderung:
- Besondere persönliche und fachliche Eignung für individualpädagogische Angebote,
- Vorlage eines polizeilichen Führungszeugnisses,
- Vorlage eines Gesundheitszeugnisses bei Maßnahmen, die nicht nur kurzfristig durchgeführt werden.
Für die Fachkräfte im Rahmen einer Einzelbetreuung, die in Eigenverantwortung der Fachkraft durchgeführt wird, gilt zusätzlich:
- Nachweis der Kreditwürdigkeit und geordneter wirtschaftlicher Verhältnisse;
- berufliche Vorerfahrungen sowie fachliche ‚Bürgen‘ bzw. ‚Garanten‘ (auf Ziff. 2 Abs. 2 wird verwiesen).
Im Grundsatz sind alle Anstellungsverhältnisse denkbar: Tarifvertragliche Anstellung innerhalb oder außerhalb des Stellenplanes, Honorarverträge, Zeitverträge u. ä.
4. Aufgabe des Landesjugendamtes
Neben den in Ziff. 2 beschriebenen Aufgaben kann das Landesjugendamt im Rahmen seiner Funktion nach § 85 Abs. 2 KJHG als Vermittler zwischen Jugendämtern und Trägern, die individuelle Maßnahmen anbieten und schaffen können, tätig sein. Es muss ggf. neue Träger und Maßnahmen anregen und schaffen. Das Landesjugendamt erstellt eine Liste von geeigneten Supervisoren/Praxisberatern sowie eine Liste von Projektträgern.
5. Hilfe für junge Volljährige
Individualpädagogische Angebote sind auch für junge Volljährige möglich. Es gelten die gleichen Grundsätze wie bei Minderjährigen. Es ist eine Vereinbarung zwischen dem Jugendhilfeträger und dem jungen Volljährigen abzuschließen. Gleichzeitig wird ein Vertrag zwischen dem Jugendamt als Kostenträger und dem durchführenden Träger der Maßnahme abgeschlossen. In diesem Vertrag sind auch Regelungen für den Fall zu treffen, dass die Maßnahme nicht so beendet wird, wie es im Hilfeplan vorgesehen war.
6. Vertragsinhalte
In jedem Einzelfall ist auf der Grundlage des Hilfeplans ein Vertrag zwischen dem Jugendhilfeträger und dem durchführenden Träger zu vereinbaren, der u. a. enthält:
- Name und persönliche Daten des Jugendlichen;
- Eckdaten zur Ausgestaltung der Hilfe, wie im Hilfeplan vereinbart;
- Regelung der Berichterstattung (wie oft meldet sich der Betreuer bei wem, in welcher Form wird berichtet);
- Versicherungsfragen;
- Honorarfestlegung/Pflegesatzvereinbarung;
- Modalitäten der Auszahlung des Geldes bzw. Überweisung ins Ausland (Trennung von Finanzmitteln für den Jugendlichen und die Fachkraft);
- Regelung der Nachfolgebetreuung;
- Name des Trägers der Maßnahme und der durchführenden Fachkraft."
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