Nachdenken über Erziehung.

Das Jugendamt heute im Spannungsfeld von Recht auf Erziehung, Kindeswohl und Eltern-verantwortung1 

Wird über Fragen der Jugendhilfe debattiert, geht es in der Regel um Strukturen und besonders um die Finanzierungsbedingungen der sozialen Arbeit auf dem Gebiet der Jugendhilfe sowie um die Untersuchung von deren Verschränkung mit anderen (staatlichen) Tätigkeitsfeldern. Bei Letzterem befinden sich besonders die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft sowie die des Familiengerichts im Blickfeld.

Aus der Sicht der Jugendhilfebranche müssen diese Diskussionen immer wieder geführt werden. Beinahe jedes Mal nimmt die Branche jedoch erstaunt zur Kenntnis, dass sich kaum öffentlich Interesse für ihre Debatten wecken lässt. Damit geht es der Jugendhilfe nicht anders als vielen anderen Bereichen der Gesellschaft, die nur ganz ausnahmsweise und mit Themen, die ihnen selbst häufig nebensächlich erscheinen, in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Das kann trösten, sollte aber den Anspruch von Jugendhilfe, öffentlich verstehbar zu sein, nicht verschwinden lassen.

Zugleich finden sich vermehrt Hinweise darauf, dass das Erziehungsgeschehen komplexer geworden sei und immer rascherem Wandel unterliege. Globalisierung und die damit verbundenen Veränderungen im Erwerbsleben, Wertewandel und Werteverlust sowie Veränderungen in den Familienstrukturen werden angesprochen. In der pädagogischen Literatur finden sich Hinweise darauf, dass Eltern zunehmend auf Restriktionen und Orientierung gegenüber ihren Kindern verzichten und sie "verwöhnen". Es wird analysiert, dass Eltern in ihrer erziehenden Rolle unsicherer werden und teils aus dieser Unsicherheit, teils die Mühsal scheuend, die es kosten würde, jene Unsicherheit zu überwinden, immer weniger erzieherisch tätig werden. Eltern würden immer mehr zu "Kumpels" und Kinder so quasi zu "Waisen". Nahe liegend, dass politisch die Erwartung formuliert wird, die Jugendhilfe müsse in einer unübersichtlicher werdenden Zeit Familien stark machen, junge Menschen fördern, stärken, fordern und schützen.  

Das Recht des Kindes auf Erziehung

Kinder müssen erzogen werden. Von dieser Annahme formuliert das Grundgesetz in Artikel 6 Absatz 2 die Kompetenzverteilung dieser gesellschaftlichen Aufgabe und weist sie zunächst den Eltern und anderen Erziehungsverpflichteten und erst in zweiter Linie dem Staat zu. "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft." Der Staat nimmt also das wahr, was gemeinhin als "Wächteramt" bezeichnet wird. Wer wachen soll, muss eine Vorstellung davon haben, was in dem zu überwachenden Bereich zu geschehen oder zu unterbleiben habe. Für Erziehung bedeutet dies, dass eine Wahrnehmung jenes Wächteramts nicht wahrgenommen werden kann, ohne dass der Wachende die Fähigkeit hat, zu unterscheiden, wann Erziehung stattfindet und wann nicht.

Spätestens hier beginnt für den Juristen der Bereich ernster Schwierigkeiten: Er soll über einen Bereich der Wirklichkeit selbst - also ohne Sachverständige befragen zu können - wertend entscheiden. Der Wunsch, dies zu können, bewegt Juristen seit langem. Er treibt sie an wie die Medizin von dem Wunsch angetrieben ist, Leben immer länger immer schmerzfreier zu ermöglichen. Die von den Juristen zu überwindende Schwierigkeit ist nicht die Endlichkeit des menschlichen Körpers, sondern die ihrer eigenen Denkwelt. Sie operiert geisteswissenschaftlich von Axiomen her deduktiv und ist damit strukturell auf die Wirklichkeit hin blind. Nicht selten wird stillschweigend - manchmal auch explizit - der Anspruch erhoben, die Lücke zwischen den letzten deduktiv gefundenen Ableitungen und der Wirklichkeit dadurch zu schließen, dass die juristische Lösung "aus der Natur der Sache" gesucht wird. Hierzu sei aus Gustav Radbruchs2 Rechtsphilosophie aus dem Jahr 1932 zitiert: "Dieser Anspruch kann in der Tat gewisse Gründe für sich anführen. Das Rechtsideal ist ein Ideal eben für das Recht und weiter für das Recht einer bestimmten Zeit, eines bestimmten Volkes, für ganz bestimmte soziologische und historische Verhältnisse. Die Idee gilt für einen bestimmten Stoff, ist auf diesen Stoff hingeordnet - ist also von dem Stoff, den sie beherrschen will, wiederum mitbestimmt. Wie die künstlerische Idee sich dem Material bequemt, wie sie eine andere wird, wenn sie in Bronze, eine andere, wenn sie in Marmor sich verkörpern soll, so ist es jeder Idee eingeboren, materialgerecht zu sein. Wir nennen dieses Verhältnis die Stoffbestimmtheit der Idee, indem wir uns den Doppelsinn dieser Bezeichnung - durch den Stoff bestimmt, weil für den Stoff bestimmt - bewusst zu eigen machen. ... Man ist nun versucht, diese Stoffbestimmtheit der Idee einer Vorgeformtheit der Idee im Stoff gleichzusetzen, und in der Tat besteht die psychologische Möglichkeit, in und aus dem Stoffe die Idee zu erschauen. So mag Michelangelo in jenem verhauenen Marmorblock visionär die Gestalt des David vorgeschaut haben, die er aus ihm erlöste. Dasselbe bedeutet es, wenn ein Jurist nach der ‚Natur der Sache‘ entscheidet. Aber solche Schau der Idee in dem Stoffe, den sie zu formen bestimmt ist, ist ein Glücksfall der Intuition, nicht eine Methode der Erkenntnis. Für das methodische Erkennen bleibt es also dabei, dass Sollenssätze nur aus anderen Sollenssätzen deduktiv abgeleitet, nicht auf Seinstatsachen induktiv gegründet werden können."

Für die Steuerung jugendamtlichen Handelns möchte ich damit einen zentralen Punkt kennzeichnen: In dem System des Rechts kann nur unter Bezug auf Natur- und Sozialwissenschaften über Erziehung gesprochen werden. Dieses ist angesichts einer weiterhin beinahe umfassenden Steuerung der öffentlichen Verwaltung durch Strukturen und Logik des Rechts und angesichts einer anspruchsvoller und sensibler werdenden Debatte um Erziehung und deren Ergebnisse eine missliche Lage - eine unauflösbar und schwer zu akzeptierende missliche Lage.

In der jugendhilferechtlichen Umsetzung bedeutet dies, dass das Verfassungsrecht einen Anspruch auf Erziehung gewährleistet und die öffentliche Verwaltung Institutionen zur Erreichung dieses Zwecks konstituiert, über den inneren Sinn und damit über die Zielerreichung innerhalb des Systems aber kaum verhandelt werden kann.  

Erziehung - wozu?

Dieses wird noch deutlicher, wenn im staatlichen Bereich nicht danach gefragt wird, wann denn Erziehung vorliege, sondern wozu zu erziehen sei - wenn also nach der staatlichen Kompetenz gefragt wird, Erziehungsziele zu setzen. Dieses wird in der jugendamtlichen Praxis ganz konkret: Kindergärten dienen, so teilt es § 22 Abs. 2 SGB VIII mit, der Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern. Gut betreut sind Kinder schon dann, wenn sie während der Zeit, in der sie im Kindergarten sind, keinen Schaden nehmen. Auch lassen sich für Kindergärten Bildungsziele beschreiben.

Schwieriger ist es da schon mit der Erziehung. Wer erziehen will und soll, muss wissen, was die zu Erziehenden, die Kinder, am Ende des Erziehungsprozesses mehr können und wissen sollen als zu dessen Beginn. Wer sich gar durch Vertrag oder Gesetz zur Erziehung verpflichtet sieht, muss Kriterien für den Zeitpunkt haben, an dem er seinen Auftrag erfüllt hat.

Doch Erziehungsziele festzustellen, gar allgemein verbindlich zu definieren, will in einem pluralen Gemeinwesen so recht nicht gelingen. Ich erlebte vor nicht allzu langer Zeit in einer Enquetekommission zum Thema Jugendkriminalität in Hamburg, dass mein Gesprächsangebot, ein eigentlich allgemein akzeptables Erziehungsziel müsste doch eine Orientierung von Leben an den Ideen von Gerechtigkeit und Solidarität sein, als nur mühevoll säkularisierte Variante alter christlicher Ideale entlarvt wurde. Derjenige, der mit meinem Vorschlag nicht einverstanden war, bot stattdessen den Erwerb von Kritik- und Dialogfähigkeit als das einzig zu einer pluralen Gesellschaft passende Erziehungsziel an. Ich widersprach heftig.

Bei näherem Nachdenken stellte ich aber fest, dass jener Kritiker so Unrecht nicht hatte. Recht spontan hatte ich das an Erziehungsziel angeboten, was mir selber wichtig ist. Ich glaube, dass dies so sein muss. Erziehung wird nur dann gelingen, wenn jene, die erzogen werden sollen, spüren, dass die Erziehenden die Dinge, die sie für wichtig erklären, auch selber für wichtig halten. Die Kunst bleibt dabei - und da folge ich meinem Kontrahenten - zu vermitteln, dass eben ich es bin, der dies für richtig hält, was nicht ausschließen kann, dass anderen es anders geht. Deshalb lässt sich ein allgemein verbindliches Erziehungsziel für eine plurale Gesellschaft als Ganzes kaum finden: Was ich für gerecht halte, ist anderen gleich; wo mir Solidarität geboten scheint, dürfen andere eine Chance zum Gewinn sehen und ich darf die Ideale meines Gegenübers mit allem Recht für hohl und unbeachtlich halten. Mindestanforderungen mag das Grundgesetz nennen - später dazu Näheres -, zur Beschreibung eines tragfähigen und allgemein verbindlichen Erziehungsziels reicht es nicht.

Unter diesen Bedingungen könnte man versucht sein, für die öffentliche Jugendhilfe den Verzicht auf Erziehung zu verlangen.  

Verfassungsrechtliche Anforderungen an Erziehung

Aus verfassungsrechtlicher Perspektive möchte ich an dieser Stelle unter zwei Gesichtspunkten über Erziehung nachdenken: Zum einen werde ich über Erziehung als Voraussetzung für den Gebrauch von Freiheitsrechten, zum anderen über die Bedeutung der Personenwürde im Bereich der sozialen Arbeit sprechen.

1.  Erziehung als Voraussetzung von Freiheitsrechten

Ein freiheitlicher Staat macht den Bürgern mit den Freiheitsrechten Angebote, deren Annahme nicht regelt, wohl aber erwartet. Paul Kirchhoff3 formuliert im Handbuch des Staatsrechts: "Die Entscheidung, ob und wie der Freiheitsberechtigte die ihm gebotene Freiheit annimmt, darf der Staat um der Freiheitlichkeit willen nicht vorgeben. Er wird jedoch darauf hinwirken, dass die in seiner Verfassung vorausgesetzte Freiheitsbetätigung sich auch tatsächlich ereignet. Er wird seinen Bürgern bewusst machen, dass nur durch ihre Teilnahme an den Wahlen Demokratie gelingen kann; er wird dafür werben, dass seine Bürger von ihrem Recht zu Ehe und Familie Gebrauch machen und damit die Zukunft des Staates in einer freiheits- und demokratiefähigen Jugend sichern; er wird in Schule und Ausbildung die Fähigkeit der Menschen zur Berufstätigkeit entfalten, durch Vermögensbildungs- und Wohnungsbauprogramme der Anwendung von Eigentums- und Wohnungsgarantie in großer Breitenwirkung eine reale Grundlage geben, die Bereitschaft der Berufstätigen zur Erwerbsanstrengung und der Eigentümer zur Pflege der Güter stützen, um die Rechtsordnung einer Berufs- und Eigentümerfreiheit zu bewahren und den Staat steuerlich finanzieren zu können. Der Kulturstaat wird freiheitsgerechte Vorsorge dafür treffen, dass die Menschen sich um das wissenschaftliche Auffinden der Wahrheit, das künstlerische Empfinden des Ästhetischen und die religiöse Frage nach dem Unauffindbaren bemühen."

Die in den Freiheitsrechten formulierten Freiheitsangebote setzen mithin voraus, dass die Bürger zur Annahme dieser Angebote bereit und in der Lage sind. Der Staat, der, wie ein anderer großer Katholik bemerkte, von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann, ist jedoch berechtigt und verpflichtet, die Freiheitsausübung zu fördern. In wesentlicher Weise geschieht dies, indem er als staatliche Vorkehrung für die Annahme seiner Freiheitsangebote freiheitskonform Erziehung zu garantieren sucht. In dem System öffentlich verantworteter Schule erzieht der Staat selbst mit einem eigenen Erziehungsauftrag auf ein Verständnis der Verfassung und der sie tragenden Grundentscheidungen. Die Elternpflicht zur Erziehung, die als fremdnütziges Recht Verfassungsrang hat, dient gleichermaßen der Sicherung der Freiheitsfähigkeit der Bürger. Diese Pflicht der Eltern wird ergänzt durch den staatlichen Auftrag, Jugendhilfeleistungen zu erbringen und durch die Pflicht, die Bürger bei der Erziehung zu überwachen. Die Erfüllung dieses Auftrags ist in einer freiheitsförderlichen, an der Personenwürde orientierten Weise zu gewährleisten.

2.  Personenwürde

Das Recht der Jugendhilfe ist seit nun 10 Jahren Teil des Sozialgesetzbuchs. Nicht ohne Grund war die Einbeziehung dieses Rechtsgebiets in das SGB lange strittig. Zentraler Unterschied zwischen den Rechten aus den verschieden Sozialversicherungen und aus versorgungsrechtlichen Anspruchsgrundlagen zu dem Jugend- und Sozialhilferecht ist, dass im erstgenannten Bereich die Leistungen nach bereits gesetzlich benannten, objektiv feststellbaren Kriterien gewährt werden, während im letztgenannten Bereich Ausgangspunkt der Hilfe die prinzipiell als wandelbar wahrgenommene momentane Situation des Hilfeempfängers ist. Das Hilfsangebot wird mithin durch einen individuellen Bedarf bestimmt.

Das Individualisierungsprinzip, wie es z. B. in § 3 Abs. 1 BSHG niedergelegt ist, sichert für sich genommen noch nicht, dass Hilfebedürftigen in verfassungskonformer Weise Hilfe gewährt wird. Es bedarf, damit dem Gebot der Wahrung der Menschenwürde entsprochen werden kann, konstitutiv einer Ergänzung durch das Wunschrecht der Hilfeempfänger. Selbst dann nämlich, wenn der Träger der Sozialhilfe den materiellen Gehalt des Individualisierungsprinzips verwirklicht, das heißt seine Hilfe der Person des Hilfesuchenden gerecht wird, bleibt der Hilfeempfänger Objekt staatlichen Handelns. Dieses ändert sich erst dann, wenn ihm die Möglichkeit gegeben wird, seine Vorstellungen über die Gestaltung seines Lebens auch in den Bereichen zur Geltung zu bringen, in denen er auf öffentliche oder öffentlich mitverantwortete Hilfe angewiesen ist.
Aus dem Wunschrecht folgt, dass die Realisierung des Wunsches nicht von vornherein mit der Begründung abgelehnt werden darf, der Bedarf sei gegenwärtig ausreichend gedeckt. Entscheidend ist, ob der Wunsch angemessen ist und keine unverhältnismäßigen Mehrkosten verursacht.

Je intensiver die erforderliche Hilfe in sein Leben einwirken soll, um so bedeutsamer wird das Wunschrecht: Ziel der Hilfe muss es in den Grenzen des Erlaubten sein, dass der Hilfeempfänger nach seinem Plan leben kann. Wie der Helfende diesen Plan bewertet, ob er zum Beispiel mit seinem eigenen übereinstimmt, muss hingegen völlig zweitrangig sein. Diese Frage bekommt erst dann eine Bedeutung, wenn zu klären ist, ob der potenzielle Helfer für diesen Hilfeempfänger der richtige ist: So wie es unzulässig ist, dem Hilfeempfänger einen fremden Plan aufzuerlegen, so ist es unsinnig, Hilfeleistende zu verpflichten, sich um die Erreichung eines ihm/ihr unsinnig erscheinenden Ziels zu bemühen. Dem Ausgleich zwischen Wunschrecht und Trägerautonomie unter den Bedingungen öffentlicher Gesamtverantwortung dienen die Prinzipien von Trägerpluralität und Subsidiarität. Die Trägerpluralität sichert die Vielfalt des Angebots, der Gedanke von Subsidiarität ordnet das staatliche und freie Handeln in der Gesellschaft als etwas Unterschiedliches aufeinander hin. Öffentliche oder öffentlich mitverantwortete Hilfe wird aber erst dann verfassungsgemäß, wenn sie insgesamt aus der Sicht des Hilfeempfängers gestaltet wird und seine ausdrücklich oder stillschweigend mitgeteilten Gestaltungswünsche berücksichtigt.

Voraussetzung dafür, dass das Wunschrecht real ausgeübt werden kann, ist, dass faktisch überhaupt eine Auswahl zwischen Verschiedenem besteht. Anderenfalls würde das Wunschrecht leerlaufen. Niemand kann das Recht dazu zwingen, eine unsinnige Wahl zwischen Gleichem zu treffen. Und: Die Wahl zwischen Gleichem kann nicht den Anforderungen genügen, die aus dem Menschenwürde-Prinzip folgen. Wer zur Wahl verpflichtet ist, muss die Chance einer Auswahl haben. Diese zu schaffen ist die Aufgabe dessen, der für das Angebot die Gesamtverantwortung hat.
Damit aber das Wunschrecht einen Gegenstand bekommen kann, bedarf es unterschiedlicher Angebote unterscheidbarer Träger. Dieses sicherzustellen ist der zentrale Bestandteil der Gesamtverantwortung, die der öffentliche Träger für die soziale Arbeit hat.

Sicher gibt es auch andere Motive, das so notwendige Zusammenwirken freier und öffentlicher Träger für nützlich und richtig zu halten. In diesem Zusammenwirken kann es am besten gelingen, das bestehende soziale Netz weiterzuentwickeln und die vorhandenen finanziellen Mittel wirtschaftlich sinnvoll einzusetzen.  

Konsequenzen für die Arbeit des Jugendamts

Mit dem KJHG, das uns als Erziehungsgesetz vorgestellt wurde, ist die Arbeit des Jugendamts ganz wesentlich aus der Perspektive zu beschreiben, wie es Erziehung leistet. Nach dem zuvor Ausgeführten kann öffentlich verantwortete Erziehung außerhalb der Schule nur nachrangig eine staatliche Aufgabe sein. Zunächst müssen diejenigen erziehen, die überzeugend die Ideale des eigenen Lebens als Ziel ihrer Erziehung plausibel machen können: die Eltern, die Familien, und nicht zuletzt die Gruppen in der Gesellschaft.

Dieses kann nur dann gelingen, wenn staatlichem Handeln ein realistisches Bild von Elternschaft und Familie zugrunde gelegt wird. Susanne Gaschke4 hat dies so formuliert: "Freiheit findet sich manchmal an unerwarteten Orten. Lange Zeit galt die bürgerliche Kleinfamilie ... als Hort der Unterdrückung. Jede familienpolitische Veranstaltung begann mit einer rituellen Verbeugung vor dem Pluralismus der Lebensformen im Zeitalter der Individualisierung ... Was genau diese Lebensformen für die Zukunft unserer Gesellschaft leisten, muss noch ermittelt werden. Aber vielleicht ist es nicht völlig abwegig, in der steigenden Zahl von Alleinerziehenden eher ein Problem als einen Gewinn zu sehen. Vor allem aber: Wie müssen sich ... die finanziell benachteiligten, von Berufs- und Familienarbeit gestressten, trotzdem liebevoll erziehenden Eltern kleiner Kinder [fühlen]? Als Idioten? Als Spießer, die eine reaktionäre Lebensweise gewählt haben? ... Familien sind das Gegenbild zu unserer durch und durch ökonomisierten Wirklichkeit: Mit ihren Zwängen, mit ihrer unmittelbaren Verantwortlichkeit für den Nächsten werden sie zu einem neuen Freiraum, weil sie nicht jedem äußeren Flexibilitätsanspruch unterworfen werden können."

Soweit das leicht verkürzte Zitat. Freiheitsermöglichend wirken in dieser Sichtweise diejenigen, die jenseits von ökonomischer Verwertbarkeit als erste zur Erziehung berufen sind. Diese sind durch den Staat dazu zu fördern, dass sie zur Freiheitsfähigkeit erziehen.

Wer mit dieser Vorstellung im Hinterkopf auf das öffentliche Angebot an Familienförderung nach den §§ 16 ff. SGB VIII schaut, stellt fest, dass es an fast allen Orten in der Republik nicht hinreichend ist. Das Angebot von Elternschulen und Elternberatung ist weiter erst in der Entwicklung, die allgemeine Nutzung dieser Angebote noch lange nicht Normalität. Wie schwierig es ist, für dieses völlig normale Leistungsangebot der Jugendhilfe für völlig normale Eltern öffentlich Verständnis zu finden, lässt sich daran erkennen, dass fast alle Ausbauprogramme für Familienförderung damit begründet werden, diese Angebote wirkten präventiv. Das ist eine sehr wagemutige Behauptung. Weder lässt sich klären, was genau durch sie vermieden wird, noch wie die vermeidende Wirkung denn zu messen sei. Tatsächlich formuliert die Präventionsbehauptung vor allem die Unsicherheit - oder auch die taktische Klugheit - der Jugendhilfe selbst, wenn sie das durchsetzen will, was sie nach dem Gesetz zu tun hat.

Der Staat, der Erziehung zu Freiheitsfähigkeit fördern will, hat sich bei der Gestaltung seiner Angebote - das ist dem Gedanken der Freiheitsfähigkeit immanent und auch im SGB VIII niedergelegt - an den Wünschen der Betroffenen zu orientieren. Diese Perspektive konsequent zu wählen, fällt den öffentlich für die Erziehung Mitverantwortlichen immer wieder sehr schwer. Ein konkreter Vorschlag hierzu: Wäre es nicht klug, die Kinder in den Tageseinrichtungen selbst und politisch wirksam an der Gestaltung des Angebots dadurch zu beteiligen, dass das Jugendamt in den geraden Jahren die Mädchen bittet, ein Bild über das zu malen, was ihnen im Kindergarten gefällt, und alle Jungen, über das zu malen, was ihnen nicht gefällt. In den ungeraden Jahren kann man umgekehrt verfahren. Die Bilder ließen sich ausstellen; die Adressaten des weitgehend öffentlich finanzierten Leistungsangebots könnten so mitteilen, ob das, was als Ergebnis von Förderung in Kindertagesangeboten vermutet wird, von ihnen auch erlebt wird. So könnten auch Kinder Teil einer politischen Beteiligungskultur werden.

So könnte realisiert werden, dass Familie nicht etwas Amorphes, mit Sicherheit Interessenhomogenes ist. Kinder und Eltern wollen nicht selten Unterschiedliches. Ich vermute, dass sich die Beschreibung des Bedarfs an außerfamiliärer Betreuung von Kindern wohl erheblich relativieren würde. Eventuell würde es bereits helfen, Kindergärten und Kinderhorte nicht als Kindertagesbetreuung, sondern als Orte der Erziehung und Förderung von Kindern zu bezeichnen. Kinder wünschen sich wahrscheinlich diese auch, vor allem wünschen sie sich wohl Flexibilität: Ich vermute, dass sie an manchen Tagen ganz lange mit Gleichaltrigen zusammen sein wollen, an anderen Tagen gar nicht. Planbar wäre unter tatsächlicher Orientierung an diesen Wünschen kaum etwas, ganz sicher keine regelmäßige Erwerbstätigkeit der dazugehörigen Erwachsenen. Jene Kinderwünsche werden nicht einziger Maßstab für das öffentliche Handeln auf dem Gebiet der Kindertagesbetreuung sein können; sie als eigenes Interesse zur Kenntnis zu nehmen, ist jedoch sicher geboten.

Der Staat, der Freiheitsfähigkeit fördern will, wird die Fähigkeit zur Selbstorganisation seiner Bürger zu einem wichtigen Punkt seines Interesses machen. Er soll in der öffentlich verantworteten Jugendhilfe Gruppen Gleichaltriger eine besondere Bedeutung beimessen. So hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum 8. Jugendbericht5 formuliert: "Der achte Jugendbericht betont die wachsende Bedeutung der Gleichaltrigengruppe als Lebensraum, als Experimentierfeld und als Hilfe zur Lebensbewältigung für junge Menschen. Nach Auffassung der Bundesregierung erfüllt die Jugendarbeit in Gleichaltrigengruppen diese konstruktiven Funktionen vor allem dann, wenn sie sich selbst in einer kulturellen Kontinuität über die Generationen hinweg versteht, wenn sie auf Teilhabe und Integration in die Gesellschaft hinwirkt und wenn sie die Gruppenmitglieder auch auf das Erwachsenenleben vorbereitet. Während Gelegenheiten und Räume, mit Gleichaltrigen zusammen zu sein, in unserer Gesellschaft weithin vorhanden sind, ist ein zunehmender Bedarf an Gelegenheiten des Gesprächs, auch der Auseinandersetzung zwischen den Generationen, zwischen Älteren und Jüngeren, festzustellen. Hier stellen sich auch wichtige jugendpolitische Aufgaben. Jugendarbeit und außerschulische Jugendbildung, die traditionell altersgruppenspezifisch ausgerichtet sind, sollten vermehrt alters- und generationenübergreifende Angebote des Gesprächs, der Bildung und des Engagements bereitstellen."

Diese Bewertung haben die Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse im Gesetzgebungsverfahren zum KJHG in einer Zeit verteidigen können, in der weithin angenommen wurde, dass die - zahlenmäßige - Bedeutung dieser ursprünglichen Träger der Jugendarbeit abnehme. Ihre innere Rechtfertigung erfährt die Vorschrift allerdings auch weniger aus der zahlenmäßigen Bedeutung der Jugendverbandsarbeit als aus den besonderen Aufgaben und Organisationsformen dieser Träger der Jugendhilfe. In diesem Sinne privilegiert die Vorschrift nicht nur eine bestimmte Auswahl zum Zeitpunkt der Gesetzgebung bestehender freier Träger der Jugendhilfe, sondern alle, die dem Prinzip der dauerhaften Selbstorganisation und der gemeinsamen Gestaltung und Mitverantwortung der Arbeit durch die jugendlichen Adressaten folgen, ohne allerdings andere aus der Arbeit auszuschließen. Damit erkennt der Gesetzgeber die besondere Bedeutung der gemeinsamen Gestaltung sozialer und politischer Strukturen durch junge Menschen an und gibt Jugendlichen die Möglichkeit, in der Jugendhilfe mitzubestimmen. Das besondere öffentliche Interesse an der Arbeit der Jugendverbände wird dadurch bestimmt, dass diese in der Lage sind, Wünsche, Vorstellungen und Meinungen von Jugendlichen zu artikulieren.
Dies hat unter anderem zur Einräumung des Anspruchs der Jugendverbände insgesamt geführt, stimmberechtigte Mitglieder für die Wahl in die Jugendhilfeausschüsse zu benennen. Wer diese Einrichtung unter dem Stichwort der Zuständigkeitslockerung attackiert, zeigt, dass er von einer verfassungskonformen Organisation öffentlich verantworteter Erziehung wenig verstanden hat.

Zentrale Herausforderung für den Bereich der Hilfen zur Erziehung scheint der Trend zur Pathologisierung von schwierigen Kindern zu sein. Lernschwierigkeiten werden zunehmend als Indiz für seelische Behinderung verstanden, wiewohl Angebote der Förderung der Erziehung in der Familie nicht selten wesentlich besser geeignet wären, Stigmatisierung und Isolierung zu vermeiden oder aufzubrechen. Zugleich und nur scheinbar unverbunden wird öffentlich die Forderung nach der Wiedereinführung geschlossener Erziehungsheime vorgetragen. Die gemeinsame Struktur beider Phänomene ist der Wunsch nach einem rasch wirkenden Heilmittel in der Erziehung, das tatsächliches Erziehungshandeln überflüssig macht. Maßnahmen nach den §§ 27 ff. SGB VIII sind aber nicht "Hilfen statt Erziehung", sondern "Hilfen zur Erziehung".

Die größte Schwierigkeit in der Organisation eines auf Freiheitsfähigkeit verpflichteten Jugendamts besteht zweifelsohne bei den repressiven Aufgaben, die das Jugendamt teils alleine, teils im Zusammenwirken mit anderen staatlichen Stellen zu erfüllen hat. Hier gilt es vor allem auszuhalten, dass das öffentliche Handeln regelmäßig nicht die bestmögliche Erziehung herbeizuführen hat, sondern vielfach akzeptieren muss, dass zunächst zur Erziehung Berufene ihre Pflicht - vielfach unverschuldet - nicht gut erfüllen. Es besteht dort die sehr hohe Anforderung an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zum Beispiel im Pflegekinderwesen oder auch im Kinder- und Jugendnotdienst, viele wichtige Entscheidungen nicht an sich ziehen zu dürfen und zugleich nicht zu resignieren.

So muss der Staat bei der Erziehung helfen, aber ihm darf nicht die volle Verantwortung für die Erziehung übergeben werden. Erziehung aus der Eltern-Kind-Relation komplett auszulagern, kann nicht im Interesse des Staats liegen. Denn bei allen Bemühungen kann er das, was Erziehung bedeutet, richtig nicht machen. Er darf dem Leben seiner Bürger nicht verbindlich und schein-objektiv die Ziele setzen, an denen sie ihr Leben zu orientieren haben, und er darf sich keine Staatsjugend machen, wie die deutsche Geschichte gezeigt hat. Er kann und soll helfen, zur Erziehung zu befähigen, er kann und soll für junge Menschen Räume zur Selbstorganisation schaffen. Das Angebot von den eigentlich zur Erziehung Berufenen, für sie die Erziehung zu übernehmen, muss er allerdings dankend ablehnen.  

Prof. Dr. Christian Bernzen


Anmerkungen:

1 Vortrag anlässlich der 75-Jahr-Feier des Stadtjugendamts Regensburg am 23. März 2001 im Historischen Reichssaal des Alten Rathauses.
2 Radbruch, Gustav: Rechtsphilosophie, 5. Auflage, 1956, S. 98 ff.
3 Kirchhoff, Paul (Hrsg. Isensee/Kirchhoff): Handbuch des Staatsrechts, Band 9, § 221, Rd. Nr. 59 ff.
4 Gaschke, Susanne: "Die Normalität umarmen" in: vorwärts 10/99, S. 30.
5 Stellungnahme zum 8. Jugendbericht, BT-Drs. 11/6576, S. X.

 

aus: Bayerisches Landesjugendamt Mitteilungsblatt 3/2001