Freiheitsentziehende Maßnahmen in der stationären Erziehungshilfe in Bayern

Angesichts immer wiederkehrender Skandalisierungen prekärer Fälle in Politik und (medialer) Öffentlichkeit und der unendlichen Diskussion zum Verhältnis von Pädagogik und Zwang lud das Bayerische Landesjugendamt am 30. Januar 2004 Expertinnen und Experten zu einem Fachgespräch über Grundlagen und Grenzen freiheitsentziehender Maßnahmen in der stationären Erziehungshilfe in Bayern ein. Ziel der Expertenrunde, an der neben den verantwortlichen Praktikern, Vertreterinnen der Fachverbände, der Heimaufsicht und des Sozialministerium mitwirkten, war eine Rekapitulation der bayerischen Positionen, die sich in der Umsetzung in Gauting, Rummelsberg und Glonn bewährt haben und auch im Zuge des Vollzugs des Ministerratsbeschlusses zur Errichtung der "Clearingstellen für Kinder mit massiv-dissozialen und kriminell auffälligen Verhaltensweisen" in Würzburg, Regensburg und demnächst in Hallbergmoos von Belang sind. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Ergebnisse dieses Fachgesprächs in verdichteter Form wiederzugeben. Vielleicht können die skizzierten Eckpunkte Orientierung geben in einer immer noch und immer wieder fachlich wie politisch "hoch aufgeladenen" Debatte. Abschließend sind einige Erkenntnisse aus der Analyse psychiatrischer Gutachten aufgenommen, die weiteren Forschungsbedarf, wenn nicht sogar vorrangigen Handlungsbedarf in der Krankenhilfe signalisieren.

Im Caritas Mädchenheim Gauting werden derzeit 42 Plätze für Mädchen, in der Rummelsberger Kinder- und Jugendhilfe 19 Plätze für Jungen und in den Clearingstellen der Evangelischen Kinder- und Jugendhilfe Würzburg und im Kinderzentrum St. Vincent der Katholischen Jugendfürsorge in Regensburg drei bzw. vier Plätze in geschlossener Form vorgehalten (die Clearingstelle im Jugendwerk Birkeneck in Hallbergmoos soll vier Plätze in geschlossener Form bekommen, sie befindet sich noch im Aufbau). Hinzu kommen die acht prinzipiell offenen, individuell anfangs jedoch teilgeschlossenen Plätze zur U-Haft-Vermeidung im Piusheim in Baiern bei Glonn. Alle zusammen genommen, könnte man also von insgesamt achtzig Plätzen in der stationären Erziehungshilfe in Bayern sprechen. Sämtliche Einrichtungen sind nicht als "geschlossene Einrichtungen" zu bezeichnen, da sie alle auch teiloffene, offene und weitere Arrangements von Erziehungshilfen anbieten, so dass ein Übergang bedarfsbezogen und je nach Entwicklungsfortschritt geschaffen werden kann (Übersicht siehe Kasten):

Einrichtungen, die geschlossene, teilgeschlossene Gruppen (a) oder Plätze zur U-Haftvermeidung (b) anbieten und Clearingstellen für massiv-dissoziale und kriminell auffällige Kinder (c) in Bayern

Einrichtung Betreuungs-
form
Platzzahl Geschlecht

Alter

(Entgelt
in Euro)

a) 
Caritas Mädchenheim Gauting
Starnberger Straße 42
82131 Gauting
Tel. 089/893249-0
Fax: 089/8503972
E-Mail: bestadler@caritasmuenchen.de  
http://www.maedchenheim-gauting.de  

Rummelsberger Kinder- und
Jugendhilfe
Päd. therap. Intensivbereich
Rummelsberg 27
90592 Schwarzenbruck
Tel. 09128/502753
Fax: 09128/502755
E-Mail: jugendhilfe-pti@rummelsberg.de  


päd.-therap.
Intensivabteilung

geschlossen

zusätzlich eine offene Intensivgruppe
 


42 Plätze in 3 Abt. mit je 2 Gruppen



25 Plätze in 4 Gruppen, davon 3 geschlossen mit insg. 19 Plätzen


Mädchen





Jungen

 
Zwischen 12 und 17 Jahre

247,46 €




zwischen 12 bis ca. 14 Jahre

240,25 €
b)
Piusheim
Schwaigerweg 2
85625 Baiern bei Glonn
Tel. 08093/59-0
Fax: 08093/59-117
E-Mail: l.farnhammer@kjf-muenchen.de  
offen 8 Plätze in prinzipiell offener Form, anfangs individualisiert geschlossen Jungen zwischen 14 bis ca. 21 Jahre

219,19 €

c)
Evangelische Kinder- und
Jugendhilfe Würzburg
Lindleinstraße 7
97080 Würzburg
Tel. 0931/250800
E-Mail: holler.jugendhilfe@diakonie-wuerzburg.de  


Kinderzentrum St. Vincent
Johann-Hösl-Strasse 4
93053 Regensburg
Tel. 0941/78740
E-Mail: krug@vincent-regensburg.de  

 
noch in Bau befindliche Clearingstelle:

Jugendwerk Birkeneck GmbH
85399 Hallbergmoos
Tel. 0811/820

  6 Plätze, davon 3 in offener und
3 in geschlossener Form

 

7 Plätze, davon 3 in offener und
4 in geschlossener Form

 



7 Plätze, davon 4 in
geschlossener Form

gemischt







gemischt



 

 
 



gemischt
 

Kinder von 10 - 13 Jahren in Ausnahmefällen 14 - 16 Jahre
offene und geschlossene Plätze
ca. 260,- €


Kinder ab 10 Jahren 
offene Plätze 214,46 €

geschlossene Plätze
283,47 €

Der Begriff "geschlossene Unterbringung" kann Missverständnisse hervorrufen, da anders als im Jugendstrafvollzug oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Kinder- und Jugendhilfe keine Flucht sichernde Funktion zukomme und Mitarbeiter hier im Gegensatz zur Polizei nicht befugt seien, körperlichen Zwang auszuüben, betonte die Expertenrunde. Weder Strafe noch Sühne ist Zweck dieser Ausgestaltung der stationären Erziehungshilfe, sondern die Sicherstellung einer pädagogischen Einwirkung. Wenn die Arrangements auch "fluchthemmend" wirken, besteht seitens des Trägers dennoch keine Gewährleistungsverpflichtung, Kinder und Jugendliche "ausbruchssicher einzusperren", und in der Praxis erweist sich dies auch als nicht machbar. Mit den Ministerratsbeschlüssen von 1998 und 2001 zu den Clearingstellen wurde von der Arbeitskonzeption her auch nochmals verdeutlicht, dass es hier nicht um eine Art "Kinderknast" gehen kann.

Nach den vorliegenden Erfahrungswerten hat keine der genannten Einrichtungen Belegungsprobleme, es scheint sogar, dass die Nachfrage im "Hochpreissegment" am Steigen ist, während die Nachfrage nach heilpädagogischen Gruppenplätzen sinkt. Diese strukturelle Entwicklung vor dem Hintergrund des Kostendrucks bei den Kommunen gibt Anlass zur Sorge. Die positive Selektion eskalierter Fälle, die zu spät kämen, und das Wegbrechen des "pädagogischen Unterbaus" in der Heimerziehung habe fatale Folgen auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Des weiteren beeinflusse das Wegfallen von nicht so "betreuungsintensiven" Kindern und Jugendlichen den Alltag der Heimerziehung wesentlich, z. B. durch das Wegfallen der partiellen positiven Vorbildfunktion durch andere Kinder und der Verdichtung von Konfliktpotential.

In den "geschlossenen" Gruppen von Gauting und Rummelsberg stammt ca. die Hälfte der jungen Menschen aus Bayern, wobei Anfragen aus dem gesamten Bundesgebiet kommen. Man kann nicht sagen, die jungen Menschen würden immer schwieriger, immer jünger und immer aggressiver. Allerdings nehme die Zahl der Borderline-Störungen, der dissozialen Störungen und der jungen Menschen mit Drogenerfahrungen zu. Während die Mädchen zu internalisierenden Störungen neigten, kennen die Rummelsberger die ganze Bandbreite delinquenter Verhaltensweisen der männlichen Jugendlichen. Engste Zusammenarbeit mit der Schule und ein tragfähiges Arbeitsbündnis mit den Eltern, auf welches zunehmend Wert gelegt wird, sind wesentliche Erfolgsfaktoren. Die Frage einer Aufnahmeverpflichtung muss im Kontext der (Rahmen-)Entgeltverhandlungen thematisiert werden.

Bei den Clearingstellen, bei denen es eine Aufnahmeverpflichtung gibt, könnte die Aufnahme über 14-Jähriger zum Problem werden, nachdem sich herauszustellen scheint, dass es auch und gerade die 14- bis 16-Jährigen sind, die die Jugendämter (und Jugendgerichte?) vor Unterbringungsprobleme stellen. Eine Aufnahme durch die Polizei bei Gefahr in Verzug war bisher noch nicht gegeben. Der Aufnahmevorlauf von ca. zwei Tagen wird als akzeptabel, die Befristung auf zunächst drei, maximal weitere sechs Monate, als heikel erlebt, ist jedoch originärer konzeptioneller Bestandteil. Kernpunkt und Kriterium des Erfolgs der Clearingstelle ist neben der diagnostischen Klärung die Entwicklung einer verlässlichen und nachhaltigen Anschlussperspektive.

Artikel 104 GG besagt, dass die Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes beschränkt werden kann. Der Argumentationslinie Wiesners (in: JAmt 03/2003 S. 109ff., vgl. auch die Dokumentation des Workshops "Freiheitsentziehende Maßnahmen als Voraussetzung für pädagogische Einflussnahme - Indikationen, Settings, Verfahren, Verein für Kommunalwissenschaften e.V., Hg., Berlin 2004) folgend kann und muss die rechtliche Zulässigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen in der stationären Erziehungshilfe rechtssystematisch aus dem elterlichen Sorgerecht (§§ 1626, 1631 BGB) abgeleitet werden, dessen rechtmäßige Ausübung gemäß § 1631b BGB richterlich und unter Berücksichtigung der Regelungen im FGG (insb. §§ 70 ff. FGG) geprüft wird (Anhörung des jungen Menschen, Bestellung eines Verfahrenspflegers, psychiatrisches Sachverständigengutachten). Bei kurz befristeten Beschlüssen kann es notwendig und sinnvoll sein, die Anhörung des jungen Mensche auf dem Wege der Amtshilfe durch das Familiengericht am Ort der Einrichtung zu organisieren, was allerdings in der Tätigkeitsstatistik der Familienrichter zum Ausdruck kommen sollte.

Ein ebenso neuralgischer wie bedeutsamer Punkt in der pädagogischen Konzeption freiheitsentziehender Maßnahmen in der stationären Erziehungshilfe ist der Übergang vom "festhaltenden" zum "loslassenden Arrangement, der sorgfältig geplant und begleitet werden muss. Dies bedeutet Arbeitsaufwand, der personell dargestellt werden muss, auch was die Kontinuität des Casemanagements im Jugendamt anbetrifft.
Der Erfolg in zwei Dritteln der Fälle, der mit einer kleinräumigen Operationalisierung von Zielsetzungen im Kontext der Hilfeplanung korrespondiert, lässt sich an Kriterien wie gesundheitliche Unversehrtheit, Normalisierung der Alltagsstruktur, Entfallen der Entweichungsgefahr, Deliktfreiheit oder deutliche Minderung der Delikt-schwere oder Deliktfrequenz, soziale Integration (Dach über dem Kopf, Freundeskreis) und Aufnahme eines Ausbildungs- bzw. Beschäftigungsverhältnisses festmachen. Interessant ist, dass mehr junge Menschen in ihre Ursprungsfamilien zurückkehren als man angesichts der in der Regel doch gravierenden Umstände, die zur Freiheitsentziehung führen, glauben möchte.
Die pädagogischen Konzepte der genannten Einrichtungen entwerfen eine Vorstellung von Erziehung (Freiheit in Grenzen, Regeln und Grenzen, Fördern und Fordern), die auch jenseits der Debatte um "geschlossene Unterbringung" Impuls gebend sein kann.
Es ist zu erwarten, dass eine stark strukturierende Arbeit künftig noch stärkere Bedeutung in der stationären Erziehungshilfe erlangt, einschließlich der Strategien einer konfrontativen Pädagogik. Auch die offenen Intensivgruppen scheinen von der Nähe zu den freiheitsentziehenden Arrangements profitieren zu können. Die Glenn Mills Schools in den USA sind von der Gesamtstruktur nicht auf hiesige Verhältnisse zu übertragen. Die Integration einzelner Bausteine scheint aber durchaus überlegenswert.

Die baulichen und personellen Voraussetzungen sind Gegenstand der Entgeltvereinbarungen. Wegen der Intensität und der konzeptionell verankerten schrittweisen Öffnung der Maßnahme ist erfahrungsgemäß eine Verweildauer von insgesamt bis zu einem Schuljahr angezeigt. Die Betreuungsdichte und damit der Personaleinsatz müssen den Essentiales des Arrangements entsprechen. Übereinstimmung besteht darin, dass im Rahmen eines "Personalmixes" aus verschieden pädagogischen und gegebenenfalls therapeutischen Professionen auch erfahrene und qualifizierte Erzieherinnen und Erzieher den hohen Ansprüchen durchaus gerecht werden können, aber entsprechend honoriert werden sollten.

Der Dienst zu ungünstigen Arbeitszeiten für pädagogisches Fachpersonal im Gruppendienst spitzt sich zu, wenn die geforderte enge Kooperation mit dem Bereich der Schule suboptimal geregelt ist. Das Regensburger Modell mit den garantierten Anwesenheitszeiten auch der Lehrkräfte (Grundschul- bzw. Hauptschullehrer, Sonderpädagoge und Fachlehrer), wie konzeptionell beschrieben und auf Regierungsebene vereinbart, sollte verstetigt und auf andere Standorte von Clearingstellen übertragen werden. Die beteiligten Ministerien sind diesbezüglich im Gespräch. Für Lehrkräfte ist das Arbeitsfeld nicht nur anstrengend, sondern perspektivisch auch gewinnbringend. Die Verlässlichkeit der Betreuung muss wegen der für diesen Klientenkreis besonders wichtigen Beziehungskontinuität auch in schulischer Hinsicht sichergestellt sein, im Übrigen auch, weil alles, was Schule nicht leistet, die Kinder- und Jugendhilfe kompensieren muss.

Erfahrungs- und bedarfsbezogen müssen die Betriebserlaubnisse gegebenenfalls nachjustiert werden. Seitens der obersten Landesjugendbehörde wird aber großer Wert darauf gelegt, dass die Clearingstellen grundsätzlich Einrichtungen für Kinder, also Minderjährige unter 14 Jahren, und nicht für Jugendliche sein können und sollen.
Wegen der Kostenersatzzusicherung seitens des Freistaats ist die Vereinbarung zur Aufnahmeverpflichtung zunächst auf zwei Jahre begrenzt.

Ein Problem besteht nach wie vor darin, dass etliche der Schwierigsten zuhause bleiben und die Kinder- und Jugendhilfe keine Ausfallbürgschaft für Zuständigkeiten und Handlungsbedarfe seitens der Justiz, der Schule und der Krankenhilfe übernehmen kann. Das seit Oktober 2003 laufende Projekt des Deutschen Jugendinstituts (DJI) zur Evaluation freiheitsentziehender Maßnahmen verspricht auch hierzu weiterführende Erkenntnisse.

Aus wissenschaftlicher und strategischer Sicht interessieren neben den Effekten freiheitsentziehender bzw. -einschränkender Maßnahmen insbesondere auch Fragen der Indikationsstellung.
Eine kürzlich aus der Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Bezirks Oberbayern von Rüth u.a. im Oktober 2003 vorgelegte retrospektive Analyse von jugendpsychiatrischen Gutachten zu § 1631b BGB zeigt, dass in 40 Prozent der Fälle, in denen das Jugendamt eine entschiedene Haltung für eine geschlossene Unterbringung eingenommen hatte, der psychiatrische Gutachter zu einer anderen Auffassung kam. Der Studie zufolge gehen in die geschlossene Unterbringung solche Jugendliche, die höchstens 15 Jahre alt sind, psychosozial schlecht angepasst sind, über eine schwächere intellektuelle Begabung verfügen, bereits Kontakt mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie hatten, bereits in einer Fremdunterbringung, zum Teil auf einer Schule zur Erziehungshilfe oder einer Lernbehindertenschule waren, die störungsbedingt nicht mitarbeiten können, verwahrlost sind oder unter hyperkinetischen bzw. Borderline-Persönlichkeitsstörungen leiden und für die der Gutachter zum Teil eine medikamentöse Behandlung vorschlägt. Insgesamt hat sich gezeigt, dass die Indikationsstellung "geschlossene Unterbringung" nicht nur von aktuellen, statusbezogenen sondern auch von Verlaufsfaktoren abzuhängen scheint.

Sollte sich durch künftige Forschungsansätze bestätigen, dass "geschlossene Unterbringung" nicht so sehr als Maßnahme der Erziehungshilfe, sondern als "psychiatrisch-therapeutische Intervention mit rahmensetzendem Charakter" qualifiziert werden muss, so hätte dies zweifelsohne Auswirkungen auf die Notwendigkeit der Bereitstellung auch mittel- bis längerfristige psychiatrischer Behandlungsplätze und deren Finanzierung als Ereignis der Kranken-, nicht aber der Jugendhilfe.

Hans Hillmeier 

aus: ZBFS Bayerisches Landesjugendamt Mitteilungsblatt 2/2004