Freiheitsentziehende Maßnahmen im Kontext der Jugendhilfe
Es ist jetzt mehr als sieben Jahre her, dass das Bayerische Landesjugendamt zu einer Expertenrunde eingeladen hatte (BLJA Mitteilungsblatt Nr. 2/2004, S. 1 ff.). Angesichts immer wiederkehrender Skandalisierungen prekärer Fälle in Politik und (medialer) Öffentlichkeit sollten die bayerischen Positionen und Optionen rekapituliert werden.
Anlass waren seinerzeitige Ministerratsbeschlüsse, die zur Errichtung der „Clearingstellen für Kinder mit massiv dissozialen und kriminell auffälligen Verhaltensweisen“ führten. Es ist an der Zeit, quasi antizyklisch und im Kontrast zu Schlagzeilen von der „unheimlichen Eskalation der Jugendgewalt“ (vgl. Der Spiegel vom 2. Mai 2011) einmal mehr nüchtern und fachlich über Entwicklungen und den gegenwärtigen Sachstand zu berichten und einige weiterführende Überlegungen anzustellen.
Immerhin gibt es zwar den Zahlen des statistischen Landesamtes zufolge inzwischen fast zehn Prozent weniger Kinder und Jugendliche. Die Plätze für, wie man unzulässigerweise landläufig aber immer noch sagt, „geschlossene Heimunterbringung“ sind seitdem jedoch um ein Drittel mehr geworden. Die Tendenz ist auch bundesweit steigend. Und: die Plätze sind voll. Es gibt Wartelisten. Auch dies ist Anlass für eine nicht unkritische Bestandaufnahme.
Missverständlicher Begriff
Der Begriff „geschlossene Unterbringung“ kann Missverständnisse hervorrufen (siehe dazu den erst kürzlich erschienenen Beitrag von Hoffmann und Trenczek 2011). Anders als im Jugendstrafvollzug oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie kommt der Kinder- und Jugendhilfe keine vor Flucht sichernde Funktion zu.
Anders als Polizisten sind Jugendhilfemitarbeiterinnen und Jugendhilfemitarbeiter nicht befugt, körperlichen Zwang auszuüben. Ziel und Zweck der (stationären) Erziehungshilfe und deren Ausgestaltung ist weder Strafe noch Sühne, sondern die Sicherstellung pädagogisch-therapeutischer Einwirkungsmöglichkeiten. Wenn die Arrangements auch „fluchthemmend“ wirken, besteht seitens des Einrichtungsträgers dennoch keine Gewährleistungsverpflichtung, Kinder oder Jugendliche „ausbruchsicher einzusperren“. In der Praxis erweist sich dies auch als gar nicht machbar. Diesbezügliche Begehrlichkeiten werden zurecht kritisch konnotiert (Pankofer in: Rüth u.a. 2006).
Seit dem 11. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung hat sich die Debatte über das Verhältnis von Pädagogik und Zwang zwar versachlicht, wird aber immer noch leidenschaftlich geführt. Dabei wird durchaus von erzieherischen Erfolgen berichtet. Auch unter Zwang können sich tragfähige pädagogische Beziehungen entwickeln (Permin, 2010). Kinder und Jugendliche können in freiheitsentziehenden Maßnahmen lernen, etwas lernen zu wollen (Hoops und Permin, 2007).
Wer Kinder und Jugendliche führt, übt Macht aus und Einfluss. Nicht erziehen geht genauso wenig wie nicht kommunizieren. Schon in der Jugendzentrumsbewegung war schmerzlich zu spüren, dass Jugendarbeit nicht wirklich offen ist. So ist „Unterbringung“ immer ein bisschen geschlossen. Hilfe zur Erziehung aber geht nur unter Voraussetzungen. Die allererste ist die Achtung von Menschenrechten, dann die Frage der Legalität. Die nächsten sind fachliche Legitimation und verfahrensmäßige Transparenz. Professionelle Personalität und menschliche Begegnung kommen hinzu. Man merkt schon, Sprache ist schwierig, Sprache kann verräterisch sein. Deshalb die Forderung nach einem „sauberen“ Umgang mit Sprache. „Geschlossene Unterbringung“ gibt es in der Jugendhilfe nicht, freiheitsentziehende Maßnahmen nur unter ganz besonderen, unabdingbaren Voraussetzungen.
Ultima ratio
Freiheitsentziehende Maßnahmen stehen oft ganz am Ende einer Kette unglücklicher Umstände, ja von Fehlern und Fehlversuchen, die den betroffenen Kindern und Jugendlichen, ihren Angehörigen, nicht einfach angelastet werden sollten. Auch nicht einfach dem Jugendamt, obwohl die Beschneidung von grundlegenden Kinderrechten stets auch eine selbstreflexive Anfrage an alle Beteiligten sein muss, im Vorfeld wirklich die Möglichkeiten milderer Eingriffe geprüft und gewährt (nicht durchprobiert!) zu haben.
Bereits 2004 war festzustellen, dass die in Rede stehenden Einrichtungen keinerlei Belegungsprobleme zu haben scheinen. Die Nachfrage in diesem Angebot im „Hochpreissegment“ ist bis heute steigend und das bei Tagesentgelten in einer Größenordnung von bis zu € 330,00. Gleichzeitig setzt sich die so genannte Ambulantisierung der Erziehungshilfe fort, die Nachfrage nach heilpädagogischen oder sozialpädagogischen Heimplätzen ist eher rückläufig. Diese strukturelle Entwicklung der Inanspruchnahme gibt zur Sorge Anlass. Die Selektion und Konzentrierung eskalierter Fälle, die eigentlich viel zu spät „in den Genuss der Hilfe“ kommen, und das Wegbrechen des „pädagogischen Unterbaus“ hat Folgen, nicht nur in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie der Justiz, der Krankenhilfe und den Sozialhilfeleistungen. Das Wegfallen von nicht so „betreuungsintensiven“ Kindern und Jugendlichen im Alltag der Heimerziehung verschärft das Konfliktpotential. Positive Vorbilder fehlen. Auch die gelingende Normalität im Lebensalltag der Gruppe als Schutzfaktor und Ressource bleibt aus.
Werden die jungen Menschen wirklich immer erziehungsresistenter, aggressiver und krimineller? Die Zahl junger Menschen mit dissozialen Störungen, mit Borderline-Störungen und beginnenden, wenn nicht bereits manifesten Suchterkrankungen nimmt wohl zu. Nach wie vor neigen die männlichen Kinder und Jugendlichen eher zu den externalisierenden Störungen bis hin zur Delinquenz, während die Mädchen eher internalisierende Befunde aufweisen (z. B. Selbstverletzungen, Essstörungen). Aber die Mädchen sind dabei, aufzuholen. Insgesamt, und das zeigte bereits der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (vgl. www.kiggs.de), nehmen chronische Erkrankungen und seelische Störungen zu.
Die psychischen Entwicklungschancen junger Menschen korrespondieren mit personalen, sozialen und familiären Ressourcen, die in der Bevölkerung ungleich verteilt sind. Armut macht krank, ein Migrationshintergrund verstärkt die Risiken. Psychische Probleme im Kindesalter wachsen sich nicht so einfach aus.
Unbehandelt verläuft eine Erkrankung der kindlichen Seele chronisch. Manisch depressive oder suchtkranke Erwachsene (er)litten als Kinder häufig Trennungsangst. Statt mit körperlichen Kinderkrankheiten beginnen komorbide Karrieren oft mit psychischen Beschwerden. Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensauffälligkeiten, Aufmerksamkeitsdefizite führen zu dicken Jugendamtsakten. Aktenanalysen ex post fördern manchmal erschreckende Anhaltspunkte für prekäre Entwicklungen zutage. Man hätte es damals schon wissen können (und müssen?), dass die Erziehungsberatung nicht fruchtet, die SPFH nicht ausreicht, die HPT es nicht mehr richten kann und auch der wohlmeinende Ahndungsvorschlag im Bericht der Jugendgerichtshilfe die noch immer so fraglich bezeichneten wie nicht validierten „schädlichen Neigungen“ nicht stoppen kann.
Immer noch und immer wieder erreichen das Landesjugendamt, nicht selten Freitagmittag, telefonische Hilferufe, auch aus Bundesländern, die stolz darauf sind, der so genannten „geschlossenen Unterbringung“ von jungen Menschen zu entsagen. Anfragen aus Österreich, wo es gar keine gesetzliche Grundlage für „geschlossene Unterbringung“ gibt, und sogar bis aus Luxemburg kommen im Zuge der Brüssel IIa-Verordnung zur grenzüberschreitenden Unterbringung in Europa (mehr dazu Reinhard 2007, Eschenbach 2009).
Unabdingbare Voraussetzungen
Freiheitsentziehende Maßnahmen müssen rechtlich zulässig, fachlich geboten, verwaltungsverfahrensmäßig korrekt und in der Leistungserbringung wirksam sein. Die Freiheit der Person darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes beschränkt werden (Art. 104 GG). Der Argumentationslinie Wiesners folgend kann und muss die Zulässigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen in der stationären Jugendhilfe rechtssystematisch aus dem elterlichen Sorgerecht (§§ 1626, 1631 BGB) abgeleitet werden (vgl. Wiesner 2003), dessen rechtmäßige Ausübung gemäß § 1631b BGB richterlich und unter Berücksichtigung der Regelungen im FamFG (vgl. Reinfelder, in: BLJA Mitteilungsblatt 4/2009) zu prüfen ist.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass vor der Aufnahme des jungen Menschen in stationäre Erziehungshilfe in freiheitsentziehender Ausgestaltungsform folgende unabdingbaren Voraussetzungen erfüllt sein müssen:
Freiheitsentziehende Maßnahmen im Kontext der Jugendhilfe: Voraussetzungen
- Leistungsantrag der Personensorgeberechtigten auf Hilfe zur Erziehung nach eingehender Information, Aufklärung und Beratung der Hilfesuchenden.
- Bedarfsfeststellung / Hilfeplan / Leistungszusage der zuständigen Jugendbehörde mit Begründung von Notwendigkeit und Eignung dieser Ausgestaltung der Hilfeart.
- Dokumentation der Ergebnisse der Prüfung alternativer Handlungsoptionen („anderen öffentlichen Hilfen“) zur freiheitsentziehenden Ausgestaltung der stationären Erziehungshilfe.
- Nachweis der persönlichen Anhörung des jungen Menschen durch das Familiengericht. 5. Einwilligung der sorgeberechtigten Eltern, des Vormunds oder Pflegers nach Anhörung bzw. deren familiengerichtliche Ersetzung im Kontext einer Entscheidung nach §§ 1666, 1666a BGB.
- Sachverständigengutachten zur Notwendigkeit freiheitsentziehender Unterbringung insbesondere unter den Gesichtspunkten der akuten Selbst- und/ oder Fremdgefährdung.
- Bestellung eines geeigneten Verfahrensbeistands bzw. richterliche Begründung der Nichterforderlichkeit.
- Familienrichterliche Genehmigung der Unterbringungsmaßnahme (auf maximal zwei Jahre, im Normalfall ein Jahr) unter Berücksichtigung der vorliegenden Kosten- und Platzzusage.
- Zeitliche Befristung einschl. der Festlegung des Zeitpunkts der Überprüfung der Voraussetzungen nach Maßgabe des Hilfeplans / Therapieplans.
- Sicherstellung der pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit dem jungen Menschen durch geeignete Fachkräfte einschließlich psychologisch/psychotherapeutischer Hilfe.
Dem Grunde nach muss diese Checkliste „abgehakt sein“ (Fallakte), wenn sich das Tor fürs Erste schließt, zum Beispiel in Gauting oder Rummelsberg. Bekannt sind die Schwierigkeiten, Vorrang- und Beschleunigungsgebote einzuhalten, Partizipationsrechte zu achten und die Ungleichzeitigkeiten zu bewältigen. Situative Entscheidungszwänge suspendieren aber nicht die Standards der Rechtlichkeit und der Fachlichkeit. Differenzen und Dynamik ergeben sich, wo die prioritär päda&syh;gogischen Zielstellungen der Kinder- und Jugendhilfe unterschiedlichen Interessen etwa medizinischer, ordnungspolitischer oder justizieller Natur begegnen.
U-Haft-Vermeidung
Die Anordnung der einstweiligen Unterbringung in einem „geeigneten Heim der Jugendhilfe“ kann der Richter dem Grunde nach ohne Mitwirkung der Jugendhilfe treffen. „Geeignete Heime der Jugendhilfe“ müssen nicht zwangsweise geschlossene Einrichtungen sein. Streng genommen geht es hier nicht um Jugendhilfe und also auch nicht, so befremdlich das auch anmuten mag, um freiheitsentziehende Maßnahmen. Nicht nur unter rechtlichen, sondern vor allem unter Betrachtung pädagogischer Grundsätze der Jugendhilfe und dem ureigensten jugendhilfepolitischen Interesse folgend, kommen die Fachkräfte der Jugendhilfe aber nicht umhin, an dieser richterlichen Entscheidung mitzuwirken und einen wesentlichen Beitrag zur Entscheidungsfindung zu leisten. Es geht gerade um die Vermeidung des Hafteinschlusses, um die Verwirklichung wirksamer Alternativen, die das Ganze nicht noch schlimmer machen, als es ohnedies schon ist. Dennoch sollen die Möglichkeiten der U-Haft-Vermeidung in Bayern in diesem Kontext angesprochen und beschrieben werden. Unterliegen diese doch dem Vorbehalt der Betriebserlaubnis nach §§ 45 ff. SGB VIII, teilen viele Merkmale im Bedarfscluster der Klientel und auch die Interventionsstrategien und Settings sind artverwandt.
In Anbetracht der Tatsache, dass die betroffenen jungen Menschen in ihrer Biographie zu einem nicht geringen Anteil Kontakt mit öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe hatten und in nicht wenigen Fällen bereits Erfahrungen mit verschiedensten Jugendhilfeleistungen gemacht haben, sollten die Fachkräfte der Jugendhilfe ihre Bemühungen um eine geeignete Maßnahme auch vor dem Hintergrund einer drohenden Inhaftierung nicht einstellen. Im Hinblick auf das kommende bayerische Gesetz über den Vollzug der Untersuchungshaft (BayUVollzG) und dessen Intention einer erzieherischen Ausgestaltung der Untersuchungshaft an jungen Untersuchungsgefangenen lohnt eine vertiefende Befassung der Fachkräfte der Jugendhilfe mit der Thematik der freiheitsentziehenden Maßnahmen auch im Kontext des Jugendstrafverfahrens.
Für delinquente Kinder und straffällige Jugendliche steht außerhalb der Einrichtungen zur U-Haft-Vermeidung das gesamte Spektrum der stationären Erziehungshilfeeinrichtungen zur Verfügung. Insofern ist bei einer Unterbringung nach Maßgabe der individuellen Hilfeplanung die jeweils geeignete Einrichtung anhand ihrer konzeptionellen Zielsetzung auszuwählen.
Besondere Spezialisierungen für delinquente Kinder weisen die Clearingstellen in Regensburg, Würzburg und Hallbergmoos auf (siehe Matrix unten). Für Jugendliche sind die Jugendhilfeeinrichtungen in Gauting (nur Mädchen), in Rummelsberg (nur Jungen), in Weißenstadt, auf Gut Blumenthal und in Büchlberg (nur Jungen) aufgrund ihres stark strukturierenden Charakters besonders für diese Zielgruppe geeignet. Diese Einrichtungen weisen eine gute Auslastungsquote auf und es bestehen zum Teil sogar Wartelisten. Die jeweilige Trägerschaft ist der untenstehende Matrix zu entnehmen. In der Praxis findet „U-Haft-Vermeidung“ außerhalb der beiden spezialisierten Einrichtungen zur Vermeidung von Untersuchungshaft (siehe Matrix) lediglich in Einzelfällen statt.
Sofern eine richterliche Anordnung nach §§ 72 Abs. 4, 71 Abs. 2 JGG erfolgte, sind die Kosten der einstweiligen Unterbringung, wie auch die Kosten der Untersuchungshaft selbst, von der Justiz zu tragen und dürfen den Kommunen nicht angelastet werden. Dem gegenüber darf eine Untersuchungshaft seitens der Jugendhilfe nicht aus Kostengründen befürwortet werden.
Inobhutnahme
Eine Inobhutnahme von Kindern oder Jugendlichen nach § 42 SGB VIII ist erforderlich, wenn sich ein Minderjähriger oder eine Minderjährige in einer akuten Krise oder dringenden Gefahr befindet und in Schutz genommen werden muss (zum Schutzauftrag vgl. die Ausführungen zu § 8a SGB VIII) bzw. zur Krisenintervention, Beratung, Klärung weiterer Notwendigkeiten, Vermittlung, Unterstützung und erforderlichenfalls Vorbereitung und Einleitung weiterer Hilfeangebote die vorübergehende Aufnahme bzw. Unterbringung in sicherer Umgebung (Obhut) notwendig ist. Dies kann z. B. bei einer geeigneten Person (Bereitschafts- oder Kurzzeitpflegefamilie), in einer Einrichtung (Zufluchtstätte, Jugendnotdienst, Heim) oder in einer sonstigen Wohnform erfolgen.
Aufgabe und Ziel der Unterbringung ist es zu klären, was weiter geschehen soll, ohne dass ähnliche überfordernde bzw. gefährdende Situationen wieder auftreten. Die örtlichen Jugendämter halten für diese Fälle der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen entsprechende Unterbringungsmöglichkeiten vor, z. B. in besonders geeigneten Pflegefamilien (sog. Bereitschaftspflege), in eigenen Einrichtungen oder in Einrichtungen freier Träger, zum Teil im Zusammenwirken mit benachbarten Jugendämtern. Freiheitsentziehende Maßnahmen, wie bspw. bei der Inobhutnahme in den so genannten Clearingstellen (siehe Matrix unten), sind nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib und Leben des Kindes oder der bzw. des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden (§ 42 Abs. 5 SGB VIII). Ausschlaggebend hierzu sind allein akute Selbst- und Fremdgefährdung der betroffenen Kinder und Jugendlichen oder dritter Personen, nicht aber die Gefährdung von Rechtsgütern wie Eigentum oder öffentliche Ordnung.
Freiheitsentziehung ist auch insoweit nicht erforderlich, als ihr Zweck durch intensive pädagogische Maßnahmen erreicht werden kann: durch unterstützende Pädagogik (Zuwendung, Anerkennung, Überzeugung), durch pädagogische Grenzsetzung (Absprachen, Ankündigung, Anordnung, Kontrolle der Einhaltung) oder durch Freiheitsbeschränkung mit pädagogischem Ziel. Erfüllen intensive pädagogische Maßnahmen nicht den Zweck, ist weiterhin zu prüfen, ob anstelle der Freiheitsentziehung andere Mittel wie medizinische / psychiatrische Maßnahmen besser geeignet sind. Eine Freiheitsentziehung, die die körperliche Bewegungsfreiheit entgegen oder ohne Willen des Minderjährigen unterbindet, ist nur zeitlich eng befristet möglich.
Ohne gerichtliche Genehmigung ist sie spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu beenden (§ 42 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII) oder durch eine Entscheidung des Familiengerichts gemäß § 1631b BGB zu legitimieren. Auch hier gelten die oben beschriebenen unabdingbaren Voraussetzungen wie die persönliche Anhörung des Kindes oder der bzw. des Jugendlichen durch das Gericht, die Einholung eines psychologisch / psychiatrischen Gutachtens sowie die Bestellung eines Verfahrensbeistands. Die Freiheitsentziehung ist sofort zu beenden, wenn der Zweck für die richterliche Anordnung der Maßnahme entfallen ist (vgl. zur Inobhutnahme die vom Bayerischen Landesjugendhilfeausschuss am 09.10.2007 beschlossenen und vom Vorstand des LJHA ergänzten fachlichen Empfehlungen, www.blja.bayern.de/textoffice).
Einrichtungen und Plätze in Bayern
Zählt man die U-Haft-Vermeidung an dieser Stelle einmal dazu, gibt es in Bayern derzeit (Stand: Mai 2011) 141 Plätze (ohne U-Haft-Vermeidung sind es 126 Plätze) in insgesamt zehn (acht) Einrichtungen.
Im Rahmen der Aktualisierung der angeführten Übersicht (siehe Matrix unten) der Plätze in Bayern wurden die Fachkräfte in den Einrichtungen gefragt, was derzeit „vor Ort“ in der Diskussion ist. Die Fachkräfte haben den Eindruck, dass die Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen im Sinne psychiatrischer Störungsbilder zunehmen. An dieser Stelle ist in Zukunft besondere Aufmerksamkeit nötig, da nicht nur für die Jugendhilfe, sondern auch für die Kinder- und Jugendpsychiatrie Entwicklungsaufgaben hinterlegt sein könnten. Die Arbeit mit der Familie ist zentraler Bestandteil der Hilfe. Sie werde zunehmend dadurch erschwert, dass Familiensysteme in Einzelfällen kaum noch greifbar, kaum noch vorhanden seien. Auch bezüglich der Familien scheint es eine Entwicklung hin zu komplexeren Problemlagen zu geben.
Im Hilfeverlauf ist die maßgebliche Herausforderung, Übergänge erfolgreich zu gestalten, vor allem den Übergang von geschlossenen zu offenen Betreuungsformen. Die Einrichtungen, die freiheitsentziehende Maßnahmen anbieten, verfügen in aller Regel über differenzierte Anschlusshilfen, die aber für sich genommen noch nicht garantieren, dass Übergänge gelingen. Insofern muss sich die Jugendhilfe auch in Zukunft fragen, was sie tun kann, um die Mädchen und Jungen so früh als möglich auf offene Betreuungsformen vorzubereiten.
Die bayerischen Einrichtungen sind sowohl regional als auch überregional gut vernetzt. Ohne „schwarze Peter“ verteilen zu wollen, wünschen sich die Fachkräfte der Jugendhilfe in Einzelfällen, wenn es zu einer Krise kommt, mehr Unterstützung von der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Natürlich sind der Jugendhilfe aber auch die begrenzten Ressourcen der Gesundheitshilfe bewusst.
Vor Ort wird daran gearbeitet, die Hilfe noch stärker an den Bedürfnissen des Individuums auszurichten. Die spannende Frage lautet: Wie groß sind die Möglichkeiten von Individualisierung in geschlossenen Gruppen und wie sehen sie konzeptionell aus? Und gleichzeitig fragen sich Fachkräfte im Einzelfall, wo die Grenzen der pädagogischen Einflussnahme im Rahmen der Jugendhilfe verlaufen. Leider sind manche Mädchen und Jungen derart belastet, dass sie diese Grenzen berühren und überschreiten.
Bayerische Einrichtungen mit der Möglichkeit von freiheitsentziehenden Maßnahmen
(nach einer familiengerichtlichen Genehmigung gemäß § 1631b BGB)
Einrichtung |
Betreuungsformen |
Platzzahl |
Geschlecht |
(Aufnahme-) Alter und Entgelt /Tagessätze |
---|---|---|---|---|
Caritasverband der Erzdiözese |
6 intensiv-therapeutisch individuell geschlossene Gruppen. Davon 1 sog. DBT-Gruppe (Dialektisch Behaviorale Therapie) und 1 Gruppe für Mädchen mit Traumafolgestörungen
|
42 Plätze in 3 Abteilungen mit je 2 Gruppen offene Anschlussgruppen
|
Mädchen
|
12 - 17 Jahre Intensivtherapeutisch individuell geschlossene Gruppe: 253,01 Euro "Traumagruppe":
|
Rummelsberger Dienste Ansprechpartner: Dr. Markus Enser |
Individuell geschlossene Wohngruppen Offene Gruppe Offene Pädagogisch-Therapeutische-Intensivgruppe
|
3 geschlossene Gruppen mit insgesamt 19 Plätzen. Offene Gruppe mit Schwerpunkt auf Traumatisierungen und 4 Plätzen Offene Pädagogisch-Therapeutische-Intensivgruppen mit 7 Plätzen (Schwerpunkt: Übergang von geschlossenen zu offenen Betreuungsformen) |
Jungen
|
12 - 16 Jahre (Schulpflichtigkeit von mindestens 1 Jahr in geschlossener Gruppe sinnvoll) Geschlossene Gruppe: 262,80 Euro Offene Gruppe (Traumatisierungen): 239,00 Euro Offene Gruppe (OPTI): 209,36 Euro |
Evangelisches Jugend-und Fürsorgewerk gemeinnützige AG |
Intensiv-Sozialtherapeutische Wohngruppen
|
Intensiv-Sozialtherapeutische Wohngruppen "NELE" (Mädchen) und "NEWE (gemischt)" mit insgesamt 12 Plätzen
|
Mädchen und Jungen
|
Ab 14 Jahren 255,31 Euro
|
Evangelisches Jugend-und Fürsorgewerk gemeinnützige AG |
Sozialtherapeutische Wohngruppe
|
2 Sozialtherapeutische Wohngruppen mit
|
Jungen
|
Ab 14 Jahren
|
Sozialwerk Heilig Kreuz Haus St. Josef Kinderheimstr. 38 |
Individuell Geschlossene Clearing Gruppe (IGC)
|
2 Gruppen mit insgesamt 16 Plätzen
|
Jungen
|
11 - 16 Jahre 240,55 Euro
|
Die Clearingstellen für massiv dissoziale und kriminell auffällige Kinder |
|
|||
Diakonisches Werk Würzburg e.V. Evangelische Kinder-, Jugend-und Familienhilfe Würzburg Lindleinstr. 7 |
Clearingstelle
|
7 Plätze
|
Mädchen und Jungen
Mädchen und Jungen
|
10 -14 Jahre
|
Katholische Jugendfürsorge der Diözese Regensburg e.V. |
Intensivtherapeutische Gruppe mit integrierter Clearingstelle
|
7 Plätze
|
Mädchen und Jungen
|
10 - 14 Jahre
|
Jugendwerk Birkeneck GmbH |
Individuell geschlossene Gruppe -Clearingstelle
|
7 Plätze (fakultativ geschlossen)
|
Mädchen und Jungen
|
10 - 14 Jahre
|
Einrichtungen zur Vermeidung von Untersuchungshaft |
||||
Evangelisches Jugend- und Fürsorgewerk (EJF) Jugendhilfeeinrichtung "Neustart" im Pädagogisch-Therapeutischen Zentrum (PTZ) Franken |
Offene Wohngruppe
|
7
|
Männliche und weibliche Jugendliche und junge Volljährige
|
Jugendliche und Heranwachsende nach 1 Abs. 2 JGG
|
BBW St. Franziskus Abensberg Zentrum für berufliche Bildung und Rehabilitation |
Offene Wohngruppe
|
8
|
Männliche Jugendliche und junge Volljährige
|
Jugendliche und Heranwachsende nach 1 Abs. 2 JGG
|
Eckpunkte gelingender Kooperation
Freiheitsentziehende Maßnahmen stellen einen massiven Eingriff in grundlegende Persönlichkeitsrechte dar. Zulässig und zielführend sind sie nur, wenn die Voraussetzungen stimmen. Dazu gehört auch die Zusammenarbeit zwischen allen Verfahrensbeteiligten. Der junge Mensch und diejenigen, die für ihn Sorge tragen sowie die Fachkräfte, die die Leistungen im Rahmen dieses besonderen Kontextes erbringen, sind hier als Erste zu nennen. Sodann sind es das Jugendamt, das den Hilfeprozess steuert bzw. im Rahmen seiner gesetzlichen Aufgaben in gerichtlichen Verfahren mitwirkt, das Familiengericht, das die freiheitsentziehende Maßnahme genehmigt, in anhängigen Strafverfahren das Jugendgericht und der – in der Regel kinder- und jugendpsychiatrische – Gutachter, der seine Expertise einbringt, die im Vorfeld, in der Planung und im Nachgang „geschlossener Unterbringung“ effizient und erfolgreich zusammenarbeiten müssen. Im Folgenden werden (fragmentarisch) einige Eckpunkte einer gelingenden Zusammenarbeit zur Diskussion gestellt, die nach Möglichkeit verbindlich vereinbart und auf der operativen Ebene verwirklicht werden müssen:
- Spätestens seit das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) im September 2009 in Kraft getreten ist, gelten der Vorrang von Kindschaftssachen und das Beschleunigungsgebot. Alle Verfahrensbeteiligten müssen sich daran halten. Auch die Entscheidungs- und Planungsprozesse im Jugendamt müssen dem Beschleunigungsgebot nachkommen.
- Jugendamtsfachkräfte, Richterinnen und Richter sowie Ärztinnen und Ärzte müssen (füreinander) erreichbar sein. Jourdienste, Mobiltelefone, heutzutage fast ubiquitär verfügbare Fax- und Mail-Optionen müssen Erreichbarkeit herstellen, ersetzen aber nicht kollegiale Achtsamkeit und fachliche Sorgfalt.
- Eine exakte Indikationsstellung bringt mehr als die aufgeregte Forderung nach einer Aufnahmeverpflichtung in der Kinder- und Jugendhilfe. Kein Gericht und keine Klinik kann eine Hilfeleistung nach SGB VIII anordnen. Die Entscheidungsmacht und die Herrschaft des Verfahrens liegen beim Jugendamt nach Maßgabe des Hilfeplans (§§ 36, 36a SGB VIII). Diese Verantwortung muss von seinen Kooperationspartnern respektiert, vom Jugendamt aber auch wahrgenommen werden. Die Letztentscheidung über die Aufnahme liegt allerdings bei der Einrichtung.
- Es muss selbstverständlich sein, dass Jugendamtsfachkräfte, Sachverständigengutachterinnen und -gutachter, Richterinnen und Richter und Verfahrensbeistände den betroffenen jungen Menschen auch persönlich gesehen und gesprochen haben, um ihren jeweiligen Part verantwortlich übernehmen zu können und das Recht des jungen Menschen auf Gehör zu gewährleisten.
- Zu beachten ist, dass die Bestellung eines Verfahrensbeistands vor und während der gesamten Dauer der freiheitsentziehenden Maßnahme obligatorisch ist und ein Absehen davon gesondert begründet werden muss. - Bevor ein in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebrachter junger Mensch entlassen wird, wird sobald als möglich das für den Fall zuständige Jugendamt verständigt. Es liegt vorrangig in dortiger Verantwortung, eine realistische und belastbare Anschlussperspektive (nicht erst nach der Erstattung des Gutachtens und/oder erfolgtem richterlichem Beschluss) aufzutun, so dass die im Jugendamt fallzuständige Fachkraft keinesfalls „draußen“ ist während des Psychiatrieaufenthalts sondern weiter verantwortlich eingebunden bleibt.
- Die Verbringung eines Kindes oder Jugendlichen in psychiatrischer Behandlung muss mit der grundsätzlichen Bereitschaft der Jugendhilfeeinrichtung korrespondieren, den jungen Menschen nach Bewältigung der Krise oder diagnostischen Klärung der Situation auch wieder aufzunehmen.
- In Strafverfahren sollen die Vertreterinnen und Vertreter der Jugendhilfe nicht nur „unverzüglich“ von der Vollstreckung eines Haftbefehls unterrichtet werden. Bereits der Erlass eines solchen soll ihnen mitgeteilt werden. Bereits wenn beabsichtigt ist, diesen dem Haftrichter vorzuführen, sollen sie über die vorläufige Festnahme eines jungen Menschen informiert werden.
- In Haftsachen hat die Jugendgerichtshilfe beschleunigt über das Ergebnis ihrer Nachforschungen betreffend „erzieherischer, sozialer und fürsorgerischer Gesichtspunkte“ zu berichten (vgl. §§ 52, 38 Abs. 2 Nr. 3, 72 Abs. 5 JGG).
- Schule und Arbeitsverwaltung müssen ins Boot, denn der Weg in ein eigenverantwortliches Leben führt nachhaltig nur über schulische Bildung und berufliche Ausbildung. Die besonderen personellen und konzeptionellen Herausforderungen, die der Zwangskontext stellt, müssen bei der Planung und Gestaltung der Leistung mitbedacht werden.
- Jugendamt, Familien- bzw. Jugendrichter und Verfahrensbeistand bleiben während der gesamten Dauer des Freiheitsentzugs in Kontakt und erreichbar für den betroffenen jungen Menschen und seine Sorgeberechtigten, denn sie sind Teil der kontinuierlichen Verantwortungsgemeinschaft.
- Die beauftragte Einrichtung berichtet regelhaft über Fortgang und Erfolg der freiheitsentziehenden Maßnahme unter Bezugnahme auf die im Hilfeplan möglichst operational vereinbarten Entwicklungsziele.
- Da in jedem Verfahren ein Sachverständigengutachten einzuholen ist, von dem die freiheitsentziehende Unterbringung maßgeblich abhängt, wird ein Pool von Ärztinnen und Ärzten der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie in der Heimerziehung erfahrenen Psychotherapeuten, Psychologinnen und Psychologen, Pädagoginnen und Pädagogen oder Sozialpädagogen (§ 167 Abs. 6 FamFG) gebildet, die zeitnah das erforderliche Gutachten erstatten. Die gutachterlich tätige Person soll nicht in der Einrichtung beschäftigt sein, die die Leistung erbringen soll.
- Die einstweilige Anordnung einer vorläufigen freiheitsentziehenden Maßnahme suspendiert nicht unverzügliche Prüfung und Schaffung der genannten unabdingbaren Voraussetzungen. Geraten wird zu einem sparsamen Umgang mit der einstweiligen Anordnung.
- Für die Vorführung zur Untersuchung und die Unterbringung zur Begutachtung auf richterliche Anordnung ist das Jugendamt als zuständige Behörde befugt und bereit, die Unterstützung polizeilicher Vollzugsorgane nachzusuchen.
- Zur Verbesserung von Kommunikation und Kooperation und zur Optimierung der Handlungsabläufe bilden diese Eckpunkte die Grundlage einer verbindlichen Vereinbarung.
Entwicklungsaufgaben für die Zukunft
Die BAG Landesjugendämter wird sich demnächst mit einem Positionspapier zu freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe äußern. Auf Bundesebene scheint die Einschätzung zu überwiegen, dass ein weiterer Ausbau an Plätzen mit der Möglichkeit von Freiheitsentzug nicht sinnvoll ist.
Andererseits sind auf kommunaler Ebene durchaus weitere Plätze in Planung. In München wird aller Voraussicht nach Anfang 2012 ein Jugendhilfezentrum mit sozialpsychiatrischen Versorgungsleistungen sowie der Möglichkeit freiheitsentziehender Maßnahmen eröffnet. Dort sind 14 Plätze für Mädchen und Jungen von zwölf bis 17 Jahren in zwei Gruppen vorgesehen.
Das Konzept sieht eine sehr schnelle Erarbeitung von Perspektiven und Anschlusshilfen vor. Dies soll mit Hilfe einer besonders engen Zusammenarbeit mit der örtlichen Kinder- und Jugendpsychiatrie erreicht werden.
Weitere Entwicklungsaufgaben sind schlagwortartig wie folgt zusammenzufassen: Verfahren vereinbaren. Indikationsstellungen klären. Die vorhandenen Plätze für junge Menschen aus Bayern sichern. Fehlplatzierungen vermeiden. Alternativen zur „geschlossenen Unterbringung“ wertschätzen und ausbauen. Wirkungsforschung betreiben. Elternarbeit forcieren. Lösungen für sexuell übergriffige Kinder und Jugendliche suchen und finden. Gerade auch für diese Klientel Partizipationsrechte verwirklichen und Beschwerdestrukturen schaffen. Aus Fehlern lernen. Auch in den Familien. Die Schule muss ihre Hausaufgaben machen. Richterinnen und Richter müssen sich fortbilden. Ärztinnen und Ärzte auch.
Die Frage „Was tun mit den Schwierigsten?“ begleitet die Kinder- und Jugendhilfe schon sehr lange. Die Ausdifferenzierung und Qualifizierung der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in den letzten beiden Jahrzehnten hat maßgeblich dazu beigetragen, dass für viele Schicksale von jungen Menschen Wege gefunden werden können, die nicht im Abseits enden. Die Investitionen in den Standortfaktor Jugendhilfe hat sich gelohnt und lohnt sich nicht nur in der Kindertagesbetreuung sondern auch im „harten Kern“ der Erziehungshilfe auch für die Zukunft. Trotz der in der Öffentlichkeit skandalisierten Einzelfälle hat die „Verrohung und Verwahrlosung“ der Jugend nicht zugenommen. Jugendhilfefachkräfte in den Jugendämtern und Einrichtungen haben vielmehr den Eindruck, dass Kinder und Jugendliche ihre psychosozialen Problemlagen zunehmend heftiger und klinischer zum Vortrag bringen.
Wie dem auch sei: Rechtsstaatlichkeit und fachliche Standards müssen auch dann gelten, wenn die Gesellschaft wieder einmal die Zukunftsoptionen anhand der „Verderbtheit der Jugend“ hochrechnet, wie seit sokratischen Zeiten. Internationale Standards, wie die Sicherstellung der in der UN-Kinderrechtskonvention und der UN-Behindertenrechtskonvention beschriebenen Rechte nehmen in der aktuellen Fachdebatte zentrale Positionen ein.
Die Gesellschaft und die Profis reflektieren die Vergangenheit des Umgangs mit „den Schwierigsten“. Die Ergebnisse sind zuweilen wenig schmeichelhaft: der Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren mahnt die Fachkräfte, auch im hoch belasteten Arbeitsalltag den Blick auf die Rechte der Betroffenen zu richten. Auch und vor allem die hoch spezialisierten Einrichtungen werden sich in Zukunft noch intensiver mit Fragestellungen von Partizipation, Beschwerde und Transparenz beschäftigen müssen. Es gilt noch genauer als bisher darzulegen, wie Kinderrechte auch im Ausnahmefall des Freiheitsentzugs so weit wie irgend möglich zu verwirklichen sind.
Quellen und weiterführende Hinweise
AGJ (Hrsg.): Abschlussbericht des Runden Tisches „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“; Berlin 2010.
Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung: Altersstruktur der Bevölkerung Bayerns; verschiedene Jahrgänge.
BVkE (Hrsg.): Freiheit und Eingrenzung bei intensivpädagogischen/therapeutischen Erziehungshilfen; Freiburg im Breisgau 2000. EREV (Hrsg.): Evaluation freiheitsentziehender Maßnahmen in der Jugendhilfe; Hannover 2006.
Eschenbach, Gisela: Die Umsetzung der „Brüssel IIa-Verordnung“ im Rahmen der Hilfen zur Erziehung, in: BLJA- Mitteilungsblatt 1-2/2009, S. 27-28.
Hoffmann, Birgit und Trenczek, Thomas: Freiheitsentziehende Unterbringung „minderjähriger“ Menschen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, in: JAmt, Heft 04/2011, S. 177-180.
Hoops, Sabrina und Permien, Hanna: „Mildere Maßnahmen sind nicht möglich.“ Freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1631b BGB in Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie; München 2006.
Pankofer, Sabine: Freiheit hinter Mauern. Mädchen in geschlossenen Heimen; Weinheim/ München 1997.
Permien, Hanna: Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug? Zentrale Ergebnisse der DJI-Studie „Effekte freiheitsentziehender Maßnahmen in der Jugendhilfe“; München 2010. Reinfelder, Hans: Das neue FamFG und seine Auswirkungen auf die öffentliche Jugendhilfe, in: BLJA Mitteilungsblatt 4/2009, S. 1-16.
Reinhard, Jörg: Die „Brüssel-IIa-Verordnung“, in: BLJA Mitteilungsblatt 4/2007, S. 2-6. Rüth, Ulrich, Pankofer, Sabine und Freisleder, Franz Josef (Hrsg.): Geschlossene Unterbringung im Spannungsfeld von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe; München/Wien/ New York 2006.
Wiesner, Reinhard: Freiheitsentziehung in pädagogischer Verantwortung? in: JAmt 3/2003, S. 109-116.
Hans Hillmeier, Stefan Rösler, Florian Kaiser, Harald Britze
ZBFS - Bayerisches Landesjugendamt Mitteilungsblatt 3/2011