Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren – Lehren für die Zukunft

„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“1.

Jedwede Debatte über Erziehung müsse sich der Barbarei des totalitären Regimes stellen, fordert Theodor W. Adorno, der große Philosoph und Sozialforscher. Zwar sollte die Unrechtspraxis der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren nicht auf eine Stufe gestellt werden mit den Gräueltaten des Herrschaftssystems des Nationalsozialismus. Das haben die ehemaligen Heimkinder auch nicht getan, die sich im Jahre 2007 mit einer Petition an den Deutschen Bundestag (die Situation von Kindern und Jugendlichen in den Jahren 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland in verschiedenen öffentlichen Erziehungsheimen betreffend) gewandt hatten. Doch ihre Forderung, dass nie wieder Kinder und Jugendliche, die der Jugendhilfe anvertraut werden, zu entrechteten Ausgelieferten werden dürfen, muss ein Leitsatz sein für die Lehren, die aus der Aufarbeitung dieses bedrückenden Kapitels deutscher Sozialgeschichte zu ziehen sind.

Im Dezember 2008 hatte der Bundestag fraktionsübergreifend und einstimmig die Einsetzung des Runden Tischs Heimerziehung (RTH) in den 50er und 60er Jahren beschlossen mit der Zielsetzung, dem Anliegen der ehemaligen Heimkinder, die damaligen Geschehnisse aufzuarbeiten und Genugtuung zu erlangen, gerecht zu werden (vgl. Sammelübersicht 16/495 BT - Drs. 16/11102). Das Gremium unter Vorsitz von Dr. Antje Vollmer, an dem auch ehemalige Heimkinder mitarbeiteten, legte im Januar 2010 einen Zwischenbericht und im Dezember 2010 den Endbericht vor2. Beinahe wäre es nicht dazu gekommen. Zu unterschiedlich waren die Erwartungen, wie letztlich die Wiedergutmachung ausfallen, wie weitreichend die Anerkennung erlittener Menschenrechtsverletzungen sein müsse.

Als Kind im Heim in dieser Zeit

Was aus den Berichten ehemaliger Heimkinder immer wieder hervorsticht, ist ihr Ausgeliefertsein, ihre faktische Rechtlosigkeit. Sie berichten von massiven Gewalttätigkeiten und sexuellen Übergriffen durch das  Erziehungspersonal, von Prügeln, unmenschlichen Strafen, Arrest, Demütigungen, Kontaktsperren, Briefzensur, religiösen Zwängen und erzwungener Arbeit. Hinzu kam der unsachgemäße Einsatz von Medikamenten. Schulische Bildungsmöglichkeiten und berufliche Förderung waren unzureichend oder fehlten zur Gänze. Schon der Weg ins Heim war nicht selten mit Regel- und Rechtsverstößen gepflastert. Was heute „Sorgerecht“ heißt, wurde damals als „elterliche Gewalt“ bezeichnet. Soweit das elterliche Sorgerecht eingeschränkt oder entzogen und auf andere, einen Pfleger oder Vormund übertragen worden war, veranlassten diese die „Heimeinweisung“. Bis 1969 trat bei der Geburt eines, wie es damals hieß, „unehelichen“ Kindes die gesetzliche Amtsvormundschaft des Jugendamtes ein. Alleinerziehende Mütter standen unter dem Generalverdacht, „sittlich und moralisch nicht gefestigt“ zu sein.

Disziplinierende Drohungen wie „Benimm Dich, sonst kommst Du ins Heim“ waren bis in die 70er Jahre im Volksmund und in Familien verbreitet. Heimerziehung kam auf Veranlassung der Personensorge-berechtigten, der örtlichen oder überörtlichen (Freiwillige Erziehungshilfe – FEH) Behörden oder durch Entscheidung des Vormundschaftsgerichts (Fürsorgeerziehung – FE) zustande (zur etwas anderen Situation in Bayern siehe unten). Fürsorgeerziehung konnte im Rahmen eines Strafverfahrens auch vom Jugendgericht angeordnet werden. Die Überprüfung der Notwendigkeit einer Unterbringung war in der Praxis – darauf weisen Berichte von Betroffenen und Aktenauswertungen hin – vielfach lückenhaft. Sowohl rechtlich als auch pädagogisch unbestimmte Rechtsbegriffe wie „Gefährdung“ und „Verwahrlosung“ waren zentral. Da genügte oft schon eine geringfügige oder vermutete Abweichung von der Norm (Widerspenstigkeit, Herumtreiben,  Schulschwänzen, Arbeitsbummelei), um als „verwahrlost“ oder „gefährdet“ zu gelten.

Nicht selten bestätigte sich die Drohkulisse in der Wirklichkeit. Die Berichte Betroffener aus der Praxis der Heimerziehung erschüttern. Was zum Beispiel so trocken in Artikel 35 des Bayerischen Jugendamtsgesetzes stand („... dem Vorstande der Anstalt stehen gegen den Minderjährigen die den Eltern zustehenden Zuchtmittel zu“), verhieß nichts Gutes, was die Rechte von Kindern, etwa auf gewaltfreie Erziehung angeht3.

Die institutionelle Heimaufsicht wurde bundesgesetzlich mit dem JWG erst 1961 eingeführt. Wurde eine  Entscheidung für eine Heimeinweisung einmal getroffen, musste sie so gut wie nie mehr überprüft werden, reklamiert von der Pfordten in seiner Expertise zu den Rechtsfragen (a.a.O. S. 79). Sowohl einzelfallbezogene als auch einrichtungsbezogene Rechtsbrüche und Missstände wurden nicht erkannt und nicht behoben. Die Kommunen waren es, die als die unterbringenden Stellen bzw. Maßnahme- und Kostenträger für das leibliche, geistige und seelische Wohl des einzelnen jungen Menschen mit zu sorgen hatten (heute würde man sich kontextuell auf § 36 SGB VIII beziehen), die (in Bayern mittleren) Landesbehörden hatten den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen mit zu gewährleisten (heute in Ausführung der §§ 45 - 48a SGB VIII). Den Staat als solchen und vor allem die Träger (in Bayern überwiegend Kirchen und Ordensgemeinschaften), Heimleitungen und Mitarbeiter der Einrichtungen hinzu genommen (ohne natürlich die Inhaber der elterlichen Sorge und vor allem auch die Gerichte als Entscheidungsträger zu vergessen), wird die Kontur einer ganzen Verantwortungskette sichtbar, die in den inkriminierten Fällen an entscheidenden Stellen versagt hat. Insofern ist es recht und billig, wenn die ehemaligen Heimkinder von ihnen  allen Entschuldigung und Entschädigung einfordern. Kleinmütige Rechenkünste und wechselseitige Fingerzeige werden der Sache weder moralisch noch politisch gerecht. Taugliche Frühwarn- und Kontrollsysteme sind auf verschiedenen Ebenen zu schaffen, um so etwas ein für alle Mal zu verhindern.

Lebenslange Folgeschäden

Natürlich war der pädagogische Zeitgeist ein anderer. Die erziehungs-leitenden Vorstellungen der 50er und 60er Jahre waren konservativ und restriktiv. Ordnung und Fleiß, Gehorsam und Sittsamkeit waren die Ideale. Körperliche Züchtigung und Arrest waren in den meisten Familien und Schulen eine Selbstverständlichkeit. Auch das Verhältnis zur Arbeit von Kindern und Jugendlichen war gerade in den Nachkriegsjahren ein anderes als heutzutage. Personalknappheit und Kostendruck trugen dazu bei, dass soziale Kontrolle, Disziplinierung und Diskriminierung das gesellschaftliche Bild der Heimkinder und den Alltag von Heimerziehung prägten.

Viele der ehemaligen Heimkinder müssen erleben, dass ihre Erfahrungen im Heim bis heute nicht nur in ihren  Erinnerungen sondern auch in körperlichen, seelischen und materiellen Beeinträchtigungen nachwirken. Aus ihren Anfragen und Forderungen geht hervor, wie mitunter verzweifelt sie um die Anerkennung ihres Leids, um die Entstigmatisierung ihrer Person, um ihre Rehabilitierung und finanzielle Entschädigung kämpfen. Die Folgen der Heimerziehung begründen die Forderungen der ehemaligen Heimkinder. Erlittene körperliche und sexuelle Gewalt, Demütigungen, Gefühlskälte und mangelnde Zuwendung, vermeintlich diagnostische Etikettierungen wie „schwer erziehbar“, „haltlos“ oder „schwachsinnig“ haben zu Selbstzweifeln, Depressionen oder Suchterkrankungen geführt.

Viele ehemalige Heimkinder leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ohne falsche Psychologisierung ist festzuhalten, dass diese Menschen zunächst einmal möchten, dass sich jemand Zeit für sie nimmt, ihnen zuhört und Glauben schenkt. Sie  beschäftigt sehr die Suche nach ihren Wurzeln und nach den Hintergründen der Heimeinweisung. Neutrale und kompetente Anlaufstellen sollen bei der Suche nach Informationen, Akteneinsicht, Kontaktaufnahme mit bestimmten Personen unterstützen,  schmerzliche Erkenntnisse in der biografischen Rekonstruktion auffangen und Retraumatisierungen verhindern helfen. In manchen Fällen sind medizinische Behandlungen oder psychotherapeutische Hilfen notwendig. Die Berufsbiografie ehemaliger Heimkinder entspricht häufig nicht ihren eigentlichen Fähigkeiten. Viele müssen vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden und mit den damit verbundenen Einkommensverlusten leben. Drei Jahre Torfstechen werden ihnen rentenversicherungsrechtlich nicht anerkannt. Die Erfüllung opferentschädigungsrechtlicher oder schwerbehindertenrecht-licher Leistungsvoraussetzungen ist deshalb so schwierig, weil der ursächliche Zusammenhang zwischen dem heutigen Grad der Schädigungsfolgen oder der Behinderung beweismittelfähig kaum herzustellen ist. Die Forderungen der ehemaligen Heimkinder beziehen sich auf die öffentliche  Anerkennung des erlittenen Unrechts von hoher Stelle, die Errichtung von Stützpunkten für Geschädigte und die materielle Anerkennung in Form von Ausgleichszahlungen. Über die Kontroversen um den  letztgenannten Punkt wäre der Runde Tisch beinahe geplatzt und bis heute wird über die Höhe und Finanzierungsstruktur eines zu schaffenden Fonds gestritten. Gleichwohl kam der Runde Tisch nach eingehenden Beratungen zu Lösungsvorschlägen in insgesamt vier Bereichen: Rehabilitative Maßnahmen für die gesamte Betroffenengruppe, finanzielle Maßnahmen zugunsten einzelner Betroffener, finanzielle Maßnahmen für überindividuelle Aufarbeitung sowie Prävention und Zukunftsgestaltung. Der Runde Tisch Heimerziehung hält es für notwendig, dass die heutigen Repräsentanten der damals verantwortlichen Institutionen (und dazu zählen auch das Bayerische Landesjugendamt bzw. seine Vorläufer, sowie die Kirchen, die Städte und Landkreise) öffentlich um Verzeihung bitten.

Ehemalige Heimkinder haben völlig unabhängig von möglichen Traumatisierungen ihre Identität unter erschwerten Bedingungen ausgebildet. Sie haben (in der Regel) weniger Erinnerungen an „Früher“, an ihre Kindheit und Jugend, als Menschen, die nicht im Heim waren. Es gibt weniger Fotos, weniger Geschenke, weniger Informationen zu Verwandtschaft und Lebensumständen, auch zu den Gründen für die Aufnahme in das Heim. Ehemalige Heimkinder verfügen in aller Regel nicht über ausführliche Antworten zu Fragen wie: „Wem bin ich ähnlich?“ und „Wer  wusste von meiner Situation?“ Auch aus diesen Gründen ist die Suche nach Akten für viele derart zentral und existenziell. Es gibt zahlreiche mögliche Gründe für traumatische Erfahrungen ehemaliger Heimkinder: Unverständliche und plötzliche Trennung von primären Bezugspersonen, der Verlust der gewohnten Lebenswelt, nachwirkende Kriegserfahrungen, emotionale Vernachlässigung im Heim bis hin zu Erfahrungen von Gewalt und sexualisierten Übergriffen.

Diese potentielle Gefahr wird dadurch verschärft, dass einige der Merkmale besonders schwerer Traumata für ehemalige Heimkinder leider besonders wahrscheinlich sind: lange Dauer des traumatisierenden Ereignisses
(womöglich in gewisser Korrelation mit einem langen Heimaufenthalt), Gewalt durch Menschen, ggf. sogar durch nahe stehende Personen, das Opfer fühlt sich mitschuldig, verfügt noch nicht über eine gefestigte Persönlichkeit (Kindheit, Jugend), es gibt kein Gesprächsangebot nach der Tat.

Die Folgen von traumatischen Erfahrungen können vielfältig und weitreichend sein. Darüber hinaus ist das Erleben von traumatischem Stress in der Kindheit ungleich gefährlicher und schädlicher als im  Erwachsenenalter, da wegen körperlicher und seelischer Verletzungen die weitere kindliche Entwicklung gehemmt bzw. beeinträchtigt sein kann. Kommt es zu einem Trauma, „ist nichts mehr so wie vorher“, das Gehirn ist nachweisbar verletzt. Die viel zitierte Posttraumatische Belastungsstörung scheint sowohl Notfallprogramm, also „Hilfe“ im weitesten Sinne in der akuten Gefahrensituation, als aber auch und vor allem Verletzungsfolge und damit bleibende Störung gleichzeitig zu sein: Es kann unter anderem zu so genannten Flashbacks kommen, Verwechslungen von damals und heute, zu überwältigenden Erinnerungen, körperlichen Schmerzen, massiven inneren Anspannungen oder auch Abwesenheitszuständen und Schmerzlosigkeit. Kopf und Körper sind im Ausnahme-, im Kriegszustand, es geht um Flucht oder Kampf.

Nachrangige Wirkungen von Traumata können in Form von chronischem, krankmachendem Stress,  körperlichen, kognitiven und emotionalen Entwicklungsblockaden, gestörter Bindungsentwicklung,  Schuldgefühlen und Scham auftreten. Ehemalige Heimkinder  berichten oft von scheiternden Beziehungen, Einsamkeit, körperlichen wie seelischen Krankheiten, wie beispielsweise Substanzmittelmissbrauch, Depressionen und Herz- /Kreislauferkrankungen. Zum Teil bleibt die „Ursache“ für diese massiven Beeinträchtigungen lange im Dunkeln und wird erst spät, oft im Zuge therapeutischer Prozesse mit den Erfahrungen in Kindheit und Jugend in Verbindung gebracht. Eine nicht bewältigte Traumatisierung bedeutet für Betroffene einen Teufelskreis: Bei jeder neuen Entwicklungsaufgabe werden sie wieder von „den alten Hürden“ beeinträchtigt und behindert. Die Aufarbeitung wird dadurch erschwert, dass die belastenden Erlebnisse in Institutionen stattfanden, die eigentlich Schutz hätten bieten sollen. Insofern wird nachvollziehbar, warum das Vertrauen vieler ehemaliger Heimkinder in heutige Institutionen erschüttert ist und manche  beispielsweise große Angst vor einem erneuten Heimaufenthalt im höheren Alter haben.

Wie war das damals in Bayern?

Zunächst ist davon auszugehen, dass die Heimerziehung der Nachkriegszeit von derselben Last betroffen war, wie viele andere gesellschaftliche Bereiche dieser Ära: Das dritte Reich wirkte sich trotz Bemühungen um Neubeginn und Entnazifizierung wie ein schweres Erbe aus. Unterlagen der Heimerziehung in den späten 40er und wohl auch 50er Jahren, die noch vom Nazijargon geprägt sind bzw. in denen die alten  nationalsozialistischen Bezeichnungen lediglich ausgestrichen worden sind, belegen dies eindrücklich.

Die rechtliche Grundlage für die so genannte Jugendfürsorge nach dem Zweiten Weltkrieg war das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG; 1922 verabschiedet, 1924 in Kraft getreten), das im Gegensatz zum heutigen Kinder- und Jugendhilfegesetz von einem stark ordnungsrechtlichen Charakter geprägt war. Das Bayerische Landesjugendamt war ab 1945 als Referat im Bayerischen Innenministerium eingerichtet.

Heimaufsichtliche Regelungen ergaben sich zunächst lediglich aus dem § 62 RJWG bezüglich Einrichtungen, die gerichtlich verhängte Fürsorgeerziehung durchführten4. Darüber hinaus hatte der Staat Einrichtungen zu beaufsichtigen, die Pflegekinder aufnahmen. Prinzipiell hätten den Behörden damals wohl gesetzliche Grundlagen zur Verfügung gestanden, Einrichtungen wirksamer zu beaufsichtigen. Die Literatur geht heute allerdings davon aus, dass vor allem wegen fehlender verbindlicher und konkreter Maßgaben des Gesetzes und gewisser wechselseitiger Abhängigkeitsverhältnisse von Behörden und zumeist konfessionellen Trägern, auch aufgrund von Kostendruck und Fachkräftemangel, eine wirksame Aufsicht viel zu wenig ausgeübt worden ist.

Mit der Novellierung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes hin zum Jugendwohlfahrtsgesetz im Jahr 1961 wurde eine direkte, einrichtungsbezogene Heimaufsicht eingeführt. Die neuen gesetzlichen Regelungen waren weitreichend: Personalien und Qualifikationen der Mitarbeiter, die Platzzahl, und (Änderung der)  Zweckbestimmung der Einrichtung wurden jetzt den Behörden gemeldet. Das Recht auf Schließung der  Einrichtung wurde gesetzlich verankert. Regelmäßige Kontrollbesuche sind jetzt vorgesehen. Trotz dieser gravierenden Änderungen zeigen einzelne Untersuchungen5, dass sich an der Praxis der Heimaufsicht zunächst nicht viel änderte: Interessenkonflikte und Verflechtungen von Behörden und Einrichtungsträgern verhinderten wirksame Kontrollen und fachliche Weiterentwicklungen (vgl. Mühlmann 2011; S. 5).

Diese wurden erst später, gegen Ende der 60er Jahre durch gesellschaftliche Umwälzungen wie der Studentenbewegung, der Heimkampagne und mittlerweile ausgebildete Fachkräfte angestoßen6. Die gesetzliche Regelung zur Ausführung der Fürsorgeerziehung gemäß der §§ 5 und 6 Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) fand in Bayern ihre Ausgestaltung in den Artikeln 36 ff. Jugendamtsgesetz (JAG), insbesondere in Art. 37 JAG. Danach wurde in Bayern die Fürsorgererziehung in Verantwortung der Jugendämter auf kommunaler Ebene durchgeführt. Vormundschaftsgerichte hatten im Rahmen von Anhörungen zu entscheiden, ob eine Fürsorgeerziehungs-maßnahme gerechtfertig war. Die so genannte Heimaufsicht war insbesondere in Art 39 JAG geregelt. Nach Art. 28 Abs. 2 durfte Heimerziehung nur von Einrichtungen geleistet werden, die von der zuständigen Bezirksregierung anerkannt waren.

Im Jahr 1971 ging die organisatorische Zuordnung der Jugendwohlfahrt vom Bayerischen Staatsministerium des Innern auf das Bayerische Staats-ministerium für Arbeit und Sozialordnung über7. Die Aufgabenwahrnehmung des Landesjugendamtes erfolgte damals im Rahmen des Referates für Jugendwohlfahrt innerhalb des Ministeriums. Erst ab 1978 wurde das Bayerische Landesjugendamt eine Behörde im Geschäftsbereich des Sozialministeriums. Im Jahr 1990 wurde das Landesjugendamt mit der Ausgliederung der Leitung aus dem Sozialministerium eine eigenständige Behörde, verblieb jedoch im Geschäftsbereich des Sozialministeriums. Im Jahr 2005 wurde das Bayerische Landesjugendamt in das neu geschaffene Zentrum Bayern Familie Soziales – ZBFS integriert und ist somit wiederum Teil einer Behörde im Geschäftsbereich des heutigen Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen.

Anders als in anderen Bundesländern hatte das Landesjugendamt in Bayern keine unmittelbaren operativen Aufgaben in der Heimaufsicht. Für die Wahrnehmung der Aufgaben der Heimaufsicht waren und sind die Regierungen der sieben Bezirke in Bayern als nachgeordnete Behörden des Bayerischen Innenministeriums „traditionell“, das heißt noch aus Zeiten des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, zuständig. Dennoch nimmt das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen als Oberste Landesjugendbehörde – und nachgeordnet auch das Bayerische Landesjugendamt – fachlich-inhaltlich koordinierende Aufgaben wahr.

In Bayern waren rund 80 Prozent der Heime in konfessioneller Trägerschaft, und damit deutlich über dem bundesdeutschen Schnitt von rund 65 Prozent (Stadtstaaten ca. 30 Prozent).

Die Anzahl von Heimen der Jugendhilfe in Bayern im besagten Zeitraum ist zunächst nur überschlagsweise anzugeben. Ein Heimverzeichnis des AFET (Allgemeiner Fürsorgeerziehungstag, heutiger Bundesverband für Erziehungshilfe e.V.) von 1964 führt rund 40 evangelische, 120 katholische Einrichtungen auf; die Arbeiterwohlfahrt betrieb zwei, der Paritätische Wohlfahrtsverband acht Heime, den bayerischen Städten und Landkreisen unterstanden knapp 20 Heime. All diese Zahlen beinhalten allerdings neben Einrichtungen der Jugendhilfe auch Einrichtungen der Behinderten- und Krankenhilfe. Man geht heute davon aus, dass ca. 90 Prozent der Einrichtungen beim AFET gemeldet waren.

Der Staat betrieb lediglich eine einzige Einrichtung der Jugendhilfe8: Die Staatserziehungsanstalt Lichtenau (später Landesjugendhof Lichtenau) wurde 1948 in der ehemaligen Festung Lichtenau eingerichtet. Bayern reagierte damit auf den Mangel an Plätzen für „schwererziehbare Fürsorgezöglinge“ in Heimen in freier Trägerschaft. Dieser Platzmangel hatte bislang dazu geführt, dass junge Menschen aus Bayern in anderen Bundesländern untergebracht wurden. Der Landesjugendhof Lichtenau, der dem bayerischen Innenministerium unterstand, wurde 1972 geschlossen. Der 1977 in Betrieb genommene pädagogisch therapeutische Intensivbereich des Jugendhilfezentrums Rummelsberg kann als  Nachfolgeeinrichtung betrachtet werden.

Nicht zuletzt wegen dieser „eigenen“ Einrichtung für „Schwer- und Schwersterziehbare“ wird deutlich, dass – neben Kommunen, freien Trägern der Jugendhilfe, insbesondere den konfessionellen – zweifelsohne auch der
Freistaat Bayern Verantwortung trägt für die Heimerziehung in den 50er, 60er und 70er Jahren9.

Ein weiteres Verzeichnis des AFET, das Unterlagen der Jahre 1954 bis 1975 auswertet, listet insgesamt 14 bayerische Einrichtungen auf, die als „Erziehungsheime für Schwererziehbare“ oder als geschlossene Heime
bzw. Heime mit geschlossenen Abteilungen aufgeführt waren. Eine davon ist „Lichtenau“.

Wie begegnen wir heute und in Zukunft ehemaligen Heimkindern?

Im Zuge der Beratungen am Runden Tisch Heimerziehung wurde immer wieder die Frage diskutiert, wie Profis die Aufarbeitungsprozesse Betroffener unterstützen können und welche Fehler sie dabei vermeiden sollten.
Ehemalige Heimkinder berichten von zwiespältigen Erfahrungen bei der Aufarbeitung ihrer Biografie mit Fachkräften der kontaktierten Organisationen. Die Gefahr von Reviktimisierung und Retraumatisierung sei nicht zu unterschätzen. Aus diesem Grund ist die Fragestellung zuweilen medizinisch geprägt; vor allem Erkenntnisse der Bindungsforschung und Traumatherapie werden ins Feld geführt. Sie geben den Fachkräften, die mit ehemaligen Heimkindern in Gespräche kommen, Hinweise, wie sie die oftmals schwierigen Prozesse der individuellen Aufarbeitung unterstützen und Fehler vermeiden können.      

Gespräche benötigen Zeit und Ruhe, die Kommunikation sollte von Wertschätzung und Respekt geprägt sein. Basis aller Gespräche sollte ein möglichst hoher Grad an „Sicherheit“ sein, die zum Teil erst gemeinsam
hergestellt werden muss. Innere Sicherheit hat äußere Sicherheit zur Voraussetzung. Es geht für Betroffene darum, Stresssymptome in den Griff zu bekommen und um die Wiedererlangung der Kontrolle über den
Alltag. (Gemeinsame) positive Pläne und Bilder können dies unterstützen und Situationen und Beziehungen stabilisieren, ggf. sogar Bindungserfahrungen ermöglichen. Besonders wichtig ist für Betroffene, dass ihnen Zeit zuteil und Glauben geschenkt wird. Die Anerkennung des erfahrenen Leids  als Voraussetzung für eine wirkliche Rehabilitierung ist zentraler Bestandteil der Forderungen ehemaliger Heimkinder.

Beratende Fachkräfte benötigen daher Ressourcen, vor allem Zeit und vertiefte Kenntnisse über Problemlagen ehemaliger Heimkinder. Eine wertschätzende Haltung der Fachkräfte ist zentraler Anker für jeglichen weiteren Kontakt.
Möglicherweise liegt eine Herausforderung der aktuellen Beratungspraxis darin, dass in den relevanten Organisationen in der Regel Leitungskräfte Ansprechpartner für ehemalige Heimkinder sind, die oftmals lediglich über sehr begrenzte zeitliche Ressourcen verfügen.

Das Bayerische Landesjugendamt als zentraler Ansprechpartner für ehemalige Heimkinder in Bayern

Was hat das Bayerische Landesjugendamt bisher unternommen? In der Diskussion und Aufarbeitung des Unrechts an ehemaligen Heimkindern wird der Blick in der Regel auf die 50er und 60er Jahre gelegt bzw. von der Nachkriegszeit bis zur Mitte der 70er Jahre. Seitdem hat die Kinder- und Jugendhilfe einen bemerkenswerten Qualifizierungsprozess vollzogen: Professionalisierung des Arbeitsfeldes der Heimerziehung in all ihren Facetten und die Professionalisierung der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik insgesamt seit den 70er Jahren, vielfältige Paradigmenwechsel mit Einführung des neuen Kinder und Jugendhilfegesetzes 1990/1991, internationale Standards wie die UN-Kinderrechtskonvention sowie unzählige Anstrengungen und Erfolge sowohl der freien wie der öffentlichen (örtlichen wie überörtlichen) Jugendhilfe im Bestreben, ihren Auftrag im Sinne des § 1 SGB VIII bestmöglich zu erfüllen. Vier Beispiele aus Sicht des überörtlichen Jugendhilfeträgers veranschaulichen die kontinuierliche Entwicklung: 1976 beschließt der Bayerische  Landesjugendwohlfahrtsausschuss das „Heimdifferenzierungsprogramm für die Heime in Bayern, die der Heimaufsicht nach § 78 JWG unterliegen“, 1977 beschließt die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter die Empfehlung „Heimaufsicht“, die einen ausführlichen pädagogischen Teil enthält, 1986 machen die bayerischen Ministerien für Soziales und Kultus die Richtlinien für Heime und andere Einrichtungen nach § 78 des Gesetzes für Jugendwohl Jugendwohlfahrt bekannt, 2003 schließlich beschließt der Bayerische Landesjugendhilfeausschuss die Fachlichen Empfehlungen zur Heimerziehung gemäß § 34 SGB VIII, die unter anderem Kinder- und Beteiligungsrechten einen großen Platz einräumen.

Dieser Prozess ist selbstverständlich nicht abgeschlossen, sondern muss – orientiert an den sich auch  wandelnden Lebenslagen und Bedürfnissen der jungen Menschen und ihrer Familien – kontinuierlich fortgeführt und evaluiert werden. Der Runde Tisch Heimerziehung mahnt alle Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe nachdrücklich an, alles zu tun, dass sich ein solches Unrecht nicht wiederholen kann. Darauf lag der Fokus der vielfältigen Bemühungen des Bayerischen Landesjugendamts auch im Jahre 2010.

Das Bayerische Landesjugendamt begleitet seit Jahren die Auseinander-setzung der Öffentlichkeit und  Fachszene mit der Heimerziehung der Nachkriegszeit. Seit Januar 2010 ist es zudem als zentraler  Ansprechpartner für ehemalige bayerische Heimkinder durch die Bayerische Staatsregierung benannt.

Als regionale Ansprechpartner stehen darüber hinaus die Bezirksregierungen zur Verfügung; dort die für den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen zuständigen Fachkräfte. Es haben sich auch vor dem Jahr 2010 schon ehemalige Heimkinder an das Bayerische Landesjugendamt gewandt. Insgesamt hatte das Amt Kontakt zu rund zehn ehemaligen Heimkindern. Sie berichteten von schmerzhaften und immer noch belastenden Erfahrungen in Heimen in der Vergangenheit. Ihre Schilderungen beinhalteten letztendlich alle Facetten der sogenannten Schwarzen Pädagogik: Übertriebene Strenge und Härte im Heimalltag, harte Arbeit, drakonische Strafen bei Verstößen gegen die Regeln bis hin zu Erfahrungen von Gewalt und sexualisierten Übergriffen. Es habe nicht ansatzweise Möglichkeiten der Beschwerde gegeben. Kam „das Jugendamt“ oder „die Heimaufsicht“ zu Besuch, sei die Stube hergerichtet und mit unangepassten Kindern in dieser Zeit ein Spaziergang gemacht worden.

Es erschreckt, dass ehemalige Heimkinder auch im Rahmen längerer Gespräche kaum positive Erlebnisse oder sonstige Ressourcen beschreiben. Die Heimerfahrungen derjenigen, die sich an das Landesjugendamt wenden, verbleiben offenbar beinahe gänzlich negativ besetzt. Alle berichten davon, noch heute körperlich oder seelisch aufgrund ihrer Zeit im Heim zu leiden bzw. auch finanzielle Einbußen verkraften zu müssen (im Sinne zu geringer Renten oder aufgrund vorenthaltener Bildungschancen). Hinzu kommen Fragen nach den Gründen für die damalige Heimeinweisung, die Rolle der Eltern und Verwandten und nach den Gründen für zum Teil unzählige und heute kaum noch nachvollziehbare „Verlegungen“ in andere Heime.

Ausgangspunkt für das jeweilige Anliegen ist die eigene, belastete Biografie. Sie zu schildern benötigt Zeit, Ruhe und das Gefühl, dass einem Glauben geschenkt wird. Dies allein ist für manche Betroffene bereits eine nicht zu unterschätzende Hilfe und Anerkennung. Zweitens ist die Suche nach verbliebenen Akten zentrales Anliegen der meisten ehemaligen Heimkinder, die sich an uns gewandt haben. Das Bayerische  Landesjugendamt unterstützte dabei, so gut es konnte, und stellte bspw. Kontakt zu Einrichtungen,  Jugendämtern und Bezirksregierungen her. Der Erfolg in Form tatsächlich aufgetauchter Unterlagen war leider knapp bemessen. Manchmal bleibt nur die Gewissheit, dass keine Unterlagen mehr bei der angefragten
Stelle vorliegen. Erfahrungen mancher ehemaliger Heimkinder, nach denen angefragte Stellen Auskunft gaben, dass vermutlich Unterlagen in Kellern oder auf Speichern lagern, die Zeit für die Suche jedoch nicht ausreiche, sollten jedoch hoffentlich der Vergangenheit angehören.

Die Mehrzahl der ehemaligen Heimkinder wünscht bzw. erwartet auch Rehabilitation in finanzieller Form, zunächst im Sinne aufgestockter Renten, damit ihre Arbeitsleistungen im Heim Anerkennung und  Berücksichtigung finden. Darüber hinaus müsse es aus Sicht viele ehemaliger Heimkinder auch eine grundsätzliche finanzielle Entschädigung für den damaligen Heimaufenthalt geben. Ihrer Meinung nach ist die Heimerziehung der 50er und 60er Jahre pauschal als Unrecht zu bewerten. Der Abschlussbericht des Runden
Tisches folgt dieser Sicht allerdings nicht. Das Bayerische Landesjugendamt kann die Argumentation des Runden Tisches gegen eine pauschale Bewertung der Heimerziehung der Nachkriegszeit als generelles Unrecht nachvollziehen und teilt sie. Daran drohte der gemeinsame Abschluss der Beratungen des Runden Tisches zu scheitern. Für einen momentan nicht zu quantifizierbaren Teil der ehemaligen Heimkinder bleibt  die Beratung am runden Tisch damit ein Kompromiss.

Einige ehemalige Heimkinder kämpfen nicht (allein) für sich, sondern – mit ungeheurem Einsatz – für die  Sache. Sie sind politisch engagiert, informiert und gut untereinander vernetzt. Sie äußern die berechtigte Hoffnung und Erwartung, dass nun, mit Veröffentlichung des Abschlussberichts des Runden Tisches, die politischen und kirchlichen Verantwortungsträger die Empfehlungen des Berichtes schnell einer Lösung zuführen. Es wird wohl nach allem, was man heute weiß, nicht so schnell gehen können, wie ehemalige Heimkinder das erwarten. Aber es bleibt die Hoffnung, dass im Laufe des Jahres 2011 absehbar wird, wohin die Reise geht.

Lehren für die Zukunft – Schutzfaktor Partizipation

Die Jugendhilfe hat aufgrund verschiedener Anlässe und Anstöße bemerkenswerte strukturelle, fachliche und personelle Entwicklungsprozesse vollzogen. Viele davon stehen mit der Thematik der Heimerziehung in Verbindung und sind geeignet, junge Menschen im Sinne der Kinderrechte zu stärken und zu schützen. Zentrale Handlungsmaxime der Jugendhilfe, die sich wie ein roter Faden durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz zieht, ist die Forderung nach Partizipation, auch und vor allem im Rahmen der Hilfen zur Erziehung und fokussiert in der Heimerziehung – dort, wo sich an Lebensorten junger Menschen die Notwendigkeiten verdichten. Das Bayerische Landesjugendamt befördert dieses Thema seit Jahren, u.a. mit Forschungsprojekten und der Veranstaltung von Fachtagungen in den Jahren 2004, 2006 und 200710.

Im März 2010 hat der Bayerische Landesjugendhilfeausschuss auf Initiative der Verwaltung (des Bayerischen Landesjugendamts)  einstimmig beschlossen, die Entwicklung und Implementierung einer landesweiten, nachhaltigen und begleiteten Struktur für die Partizipation von Kindern und Jugendlichen in stationärer Jugendhilfe zu verfolgen.

Beschwerdemanagement soll ein Teil dieser Struktur sein. Ein hierfür eingesetzter Ad-hoc-Ausschuss soll ein Konzept entwickeln, wie dieses Ziel Schritt für Schritt zu verwirklichen ist. Fach- und Trägerverbände, die Seite der öffentlichen örtlichen Jugendhilfe und die für die Aufsicht nach §§ 45 ff. SGB VIII zuständigen Stellen werden dabei eng beteiligt. Meilensteine sind unter anderem die Realisierung geeigneter Veranstaltungen für junge Menschen und die Erarbeitung denkbarer gesetzlicher, untergesetzlicher und
fachlicher Orientierungsmaßstäbe. Die Begründung der Verwaltung für diese Initiative stellt unter anderem fest, dass die Erkenntnisse um das düstere Kapitel der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, insbesondere
im Zuge des Runden Tisches Heimerziehung auf erschreckende tradierte Strukturmängel bezüglich Beteiligung, Mitbestimmung und Beschwerdemöglichkeiten in der damaligen Heimerziehung hinweisen. So unbewiesen die Hypothese sein mag: Es hätte damals nicht zu solchen Missständen kommen können, hätte es verbindliche
Strukturen der Partizipation gegeben!

Der beauftragte Ad-hoc-Ausschuss unter dem Vorsitz von Bernhard Zapf (Diakonie Bayern) und fachlich begleitet von Stefan Rösler (Bayerisches Landesjugendamt) tagte im Jahr 2010 zweimal. Nach einer Abstimmung von Erfahrungen, Erwartungen und Ideen der Mitglieder des Ausschusses ging es um eine gemeinsame  Vergewisserung und Übereinkunft zum Partizipationsbegriff und um erste konzeptionelle Planungen. Früh stand für den Ausschuss fest, dass es dem Thema und der Aufgabe nur angemessen ist, diejenigen um die es geht, junge Menschen in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe, so früh und so umfassend als möglich zu beteiligen. Die Planungen Ende des Jahres wiesen in die Richtung, die Sicht, die Erfahrungen, Ideen und Erwartungen junger Menschen im Rahmen einer ersten großen Auftaktveranstaltung für junge Menschen im Jahr 2011 zu integrieren. Zum Redaktionsschluss dieses Berichts steht fest, dass die Tagung  "IPSHEIM“ (Initiative Partizipationsstrukturen in der Heimerziehung) tatsächlich vom 27. bis zum 29. Juli 2011 auf der Burg Hoheneck stattfindet! 

Der Runde Tisch Heimerziehung ist zu der Auffassung gelangt, dass das künftige Schicksal ehemaliger  Heimkinder weitgehend davon abhängt, ob und wie die Gesellschaft ihr erlebtes Unrecht und Leid anerkennt
und ihnen die erforderlichen Unterstützungsleistungen zukommen lässt. Die Mahnung Adornos, dass nie wieder Kinder und Jugendliche, die der Jugendhilfe anvertraut werden, Opfer von Unrecht und Leid sein dürfen, bleibt dem Bayerischen Landesjugendamt bewusste und nachhaltige Verpflichtung.

Stefan Rösler
Hans Hillmeier

1 Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt 1971, S. 88.
2 Zwischen- und Endbericht sowie die Expertisen „Rechtsfragen der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre“, „Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre“ und „Was hilft ehemaligen  Heimkindern bei der Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierung?“ sind über die Internetseite des Runden Tisches verfügbar: http://www.rundertisch-heimerziehung.de/downloads.htm.
3 Erinnert sei daran, dass es dieses Recht gemäß § 1631 Abs. 2 BGB erst seit 2001, die Stärkung kindbezogener Verfahrensrechte wie dem der Anhörung oder der Bestellung eines Verfahrensbeistands mit dem FamFG erst viel später, seit 2009 gibt; die vorbehaltlose Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland datiert sogar erst vom Juli 2010.
4 vgl. Bayerisches Landesjugendamt; 75 Jahre Reichsjugendwohlfahrtsgesetz; München 1999; S. 73 und Mühlmann, Thomas: Öffentliche Aufsicht und Beratung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in  Einrichtungen – Historische und aktuelle Fragen zur Heimaufsicht; in: Bundesarbeitsgemeinschaft
Kinder- und Jugendschutz e.V. (Hrsg.); KJug; 56. Jahrgang; Vorabveröffentlichung Heft 2/2011; S. 3 bis 11; Berlin 2011; unter http://bag-jugendschutz.de/PDF/KJug_2-11_Muehlmann.pdf; abgerufen am 28.02.2011.
5 Vgl. z. B. Henkelmann, Andreas u.a.: Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945 bis 1972). Essen, 2011.
6 Eine weitere Zäsur erfolgte mit Einführung des KHJGs 1990/1991, mit dem der Schwerpunkt der fachlichen Weiterentwicklung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen (§§ 45 ff. SGB VIII) auf Prävention, Beratung und Unterstützung der Einrichtungen gelegt wird. Mahnende Stimmen befürchten heute, dass im Zuge der aktuellen Kinderschutzdebatte ein „Roll back“ in überwunden geglaubte Kontrollparadigmen erfolgt. Ein Argument, das sicher Beachtung verdient.
7 Vgl. Volkert Wilhelm (Hrsg.): Handbuch der bayerischen Ämter, Gemeinden und Gerichte 1799 bis 1980; Verlag C.H. Beck; München 1983; S. 311.
8 Eine zweite Staatserziehungsanstalt in Speyer wird heute als Einrichtung von Rheinland-Pfalz gewertet.
9 Neben Lichtenau betrieb der Staat ca. zehn stationäre Einrichtungen der Behinderten- und Krankenhilfe.
10 Vgl. BLJA (Hrsg.): PartHe – Partizipation in der Heimerziehung. Abschlussbericht 2004 und Tagung zu den Ergebnissen im Februar 2004 im Münchner Waisenhaus; „Was macht eigentlich ein Sprecherrat...“ Schweinfurt 2006; „Partizipation in der Heimerziehung“ und Follow Up 2007; Pluto, Liane u.a.: Institutionalisierte  Beteiligungsformen in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe in Bayern. Ergebnisse einer Vollerhebung,
in: BLJA (Hrsg.): Jahresbericht 2004, München, 2005; S. 76 bis 86

aus: ZBFS - Bayerisches Landesjugendamt Jahresbericht 2011