Problematischer religiöser Fundamentalismus und das Kindeswohl nach deutschem Recht
Die bayerischen Jugendbehörden werden in den letzten Jahren wiederholt mit Kindeswohlverletzungen als auch Verstößen gegen Kinder- und Jugendschutzgesetze konfrontiert, die einem problematischen christlichen Fundamentalismus zuzuordnen sind. Am Beispiel der jugendhilferelevanten Themen „Züchtigung“ und „Indizierung Kinder- und jugendgefährdender Schriften“ soll hier auf die bekanntesten negativen Auswirkungen bestimmter fundamentalistischer Kreise und Gemeinschaften auf das Kindeswohl eingegangen werden. Diese Kreise, Gemeinschaften und Bewegungen sehen ihre religiösen Wurzeln eher in protestantischer Tradition und erklärter Abkehr von den katholischen Kirchen. Entsprechende Erscheinungen im römisch-katholischen Bereich, wie diese beispielsweise von Beinert, Wolfgang et al.1 dargestellt wurden, sollen deshalb hier auch nicht thematisiert werden.
Um „typisch fundamentalistische“ Merkmale aus Sicht der Jugendhilfe näher festzustellen, ist eine Beurteilung darüber nachrangig, ob es sich dabei um katholische „Traditionalisten“, „evangelikale“ Christen, Mitglieder von „Freikirchen“, „konservative“ Mitglieder der Landeskirchen oder Anhänger von „Sondergemeinschaften“ bzw. „Sekten“ mit christlichem Hintergrund handelt. Das Neutralitätsgebot des Staates hat dem Grundrecht der Religionsfreiheit hier umfassend zu entsprechen, und das staatliche Wächteramt, wie es u. a. den Jugendbehörden übertragen ist, hat ausschließlich dann tätig zu werden, wenn andere Grundrechte eingeschränkt oder verletzt werden. Jedes Kind und jeder Jugendliche hat dann allerdings — wie auch jeder erwachsene deutsche Bürger — in vollem Umfang Anspruch auf den Schutz seiner Grundrechte wie sie im Grundgesetz, in der Verfassung und durch spezifische Einzelgesetze festgesetzt sind. Wird gegen diese Rechte verstoßen, kommt in der Jugendhilfe der Rechtsbegriff des „Kindeswohls“ zum Zug. Das Kindeswohl ist der Maßstab, an dem sich im Zweifelsfall die tatsächlichen, konkreten Auswirkungen religiös oder weltanschaulich motivierter Einstellungen und Handlungen prüfen lassen müssen. In der Praxis kann dies neben Eingriffen ins elterliche Sorgerecht bis zu strafrechtlicher Ahndung in Fällen von schwerer Misshandlung oder Vernachlässigung von Schutzbefohlenen gemäß
§ 225 Strafgesetzbuch führen.
1. Historie und Definitionen zum protestantischen Fundamentalismus mit besonderem Blick auf das „Herkunftsland“ USA
Die Bezeichnung Protestantismus geht zurück auf die (politische) „Speyerer Protestation“ der evangelischen Stände auf dem Reichstag in Speyer im Jahre 1529. Dieser politische Protest berief sich dabei bereits damals auf die Glaubensfreiheit des Einzelnen.
In der Folgezeit wurden zu den Protestanten im engeren Sinne die Angehörigen der christlichen Konfessionen gezählt, die sich im 16. Jahrhundert zuerst in Deutschland und der Schweiz und danach vor allem in Mittel- und Nordeuropa gegenüber der römisch katholischen Kirche durchsetzen konnten.
Später nannte sich beispielsweise auch die anglikanische Kirche in den Vereinigten Staaten nach der Unabhängigkeitserklärung „Protestant Episcopal Church in the United States of America“. Weiter sind die evangelischen Freikirchen dem Protestantismus zuzurechnen.
Der vom US-Außenministerium herausgegebene Jahresbericht 2014 über Religionsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland vom 14. Oktober 2015 zählt im “Abschnitt I. Religiöse Demografie” die evangelische Kirche (definiert als Zusammenschluss der lutherischen, unierten evangelischen und evangelisch-reformierten Kirche) sowie die Neuapostolische Kirche, die baptistischen Gemeinden (evangelische christliche Baptisten, International Baptist Convention, reformierte Baptisten, Bibel Baptisten und andere) und die evangelisch-freikirchlichen Baptisten zu den protestantischen Bekenntnisgemeinschaften in Deutschland.
Von diesem Gesamtbereich des Protestantismus weltweit soll im Weiteren — deutlich unterschieden — ausschließlich der problematische fundamentalistische Protestantismus als Beispiel für religiösen Fundamentalismus überhaupt behandelt werden.
Fundamentalismus und Moderne
Die christliche Religion heute zeichnet sich nach Thomas Meyer durch die Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte und Geschichtlichkeit aus, die seit Beginn der historisch-kritischen Bibelwissenschaft in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts unumgänglich wurde. „Mit dem seither durch die wissenschaftliche Hermeneutik aufs äußerste verfeinerten Instrumentarium der Textkritik konnten die Entstehungszeiten und -umstände der einzelnen Texte der Heiligen Schriften des Christentums weitgehend und eindeutig genug geklärt werden, um die traditionalistische Annahme der unmittelbar göttlichen Abkunft jedes ihrer Sätze unwiederbringlich zu entkräften.“2
Antimodernistische Fundamentalisten dagegen scheuen die liberale, wissenschaftlich argumentierende Theologie daher wie der Teufel das Weihwasser. Die Heilige Schrift sagt dem aufgeklärten Gläubigen nur noch, was er historisch nachvollziehen kann und aus seiner persönlichen Erfahrung heraus als sinnhaft zu deuten vermag. „Modernisierte Religion ist die Konsequenz aus der kopernikanischen Wende, die Luther vollbrachte, als er den einzelnen zu seinem eigenen Priester und den individuellen Glauben zur letzten Instanz religiöser Geltungsansprüche machte.“3
Für die Entstehung des (insbesondere US-amerikanischen) protestantischen Fundamentalismus macht Meyer u. a. die Modernisierungs-Verweigerung seiner Anhänger verantwortlich. Dass „provinzielle“ Modernisierungs-Verweigerer häufig auch tatsächlich „Modernisierungs-Verlierer“ waren und sind, gehört wohl zu den wirksamsten Entstehungsgründen des „Fundamentalismus“ jeglicher Couleur weltweit. So antwortet auch der protestantische Fundamentalismus auf die krisenhafte Moderne mit Bestrebungen, die sich auf heilige Texte berufen, um eine andere Gesellschaft aufzurichten oder zumindest die befürchtete Apokalypse heil zu überstehen.
Der ursprüngliche amerikanische Fundamentalismus lässt sich am besten als eine konservative protestantische Sammlungsbewegung charakterisieren. Deren Minimalkonsens besteht in den „five fundamentals“. Wichtigster Punkt dabei ist das konsequente Verständnis der Bibel als das „Wort Gottes“, das folglich nicht symbolisch, sondern wort-wörtlich zu interpretieren ist. Die anderen vier Glaubensprinzipien beziehen sich auf die Jungfrauengeburt, die leibliche Wiederauferstehung, das stellvertretenden Sühneopfer und die physische Wiederkehr Christi. Die gemeinsame theologische Frontstellung tritt der modernen Bibelkritik der liberalen Theologie entgegen. Andererseits werden sozialreformerische Ansätze abgelehnt, die egalitäre Aspekte des Urchristentums und die soziale Verantwortung des Christen in den Mittelpunkt stellen. Es wird dogmatisch auf einer individualistisch orientierten Position verharrt.4
Die neue Gesellschaftsordnung bzw. das neue Leben i. S. des protestantischen Fundamentalismus war und ist auf dieser Grundlage nur durch eine Rückwendung hin zu vormodernen, angeblich noch rechtgläubigen Zeiten und Gemeinschaftsstrukturen zu erreichen. Als `patriarchalische Protestbewegung` (Martin Riesebroth) beruft er sich auf das göttliche Gesetz, um gegen zeitgemäße Liberalisierungen vorzugehen. Die Moderne mit ihren Chancen und Ambivalenzen wird als Verrat an der Tradition und damit als generelle religiöse und kulturelle Identitätsgefährdung zum umfassenden Feindbild erklärt.5 Die Bedrohung dieser Identität soll dabei ausgehen von neuzeitlichen Erscheinungen wie den verschiedenen „Befreiungsbewegungen“(Sexual-Moral, Laissez-fair-Prinzip, usw.), der ökumenischen Bewegung, der kritischen Bibelexegese, der Evolutionstheorie, dem „Sozialismus“, dem säkularen Humanismus, der „Aufklärung“ und vor allem von dem „Verfall der Familie“.
Sozialpsychologie fundamentalistischer Biographien und autoritärer Führungsstrukturen
Die (Sozial-)Psychologie des fundamentalistischen „Gemeindeaufbaus“ und ihrer Mitglieder kann hier nur angerissen werden. So wurde im Rahmen der Forschungsprojekte der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ (1996-98) auch eine „Typisierung christlich-fundamentalistischer Biographien“ vorgenommen. Untersucht wurden dabei Einmündung, Karriere, Verbleib und Ausstieg entsprechender Interviewpartner (Aussteiger, Konvertierte und Überzeugte) aus Milieus und Organisationen christlich-fundamentalistischer Prägung. Die dabei hervorstechenden unterschiedlichen Zugangs- und Adaptionsweisen werden unterteilt in drei Typisierungen: Der „traditionsgeleitete Typus“(1) ist durch familiale oder milieubezogene mono-kulturelle Religiosität geprägt und nimmt diese Einfügung als gutes Schicksal oder göttliche Fügung hin. Dagegen ist beim „Mono-Konvertit“(2) eine familiale religiöse Sozialisation nicht erkennbar oder unerheblich, und dennoch oder gerade deshalb verschreibt er sich wie unter Wahlzwang „ein für allemal in seinem Leben einer bestimmten religiösen Orientierung“, die zugleich eine Entscheidung gegen die bisherige Weltanschauung bedeutet. Beim „akkumulativen Häretiker“(3) ist eine familiale religiöse Sozialisation ebenfalls (kaum) erkennbar, aber er bevorzugt offene religiöse Milieus, die er nutzt, um durch selektive Auswahl aus unterschiedlichen religiösen und spirituellen Traditionen das ihm Akzeptable i. S. einer Suchbewegung auszuwählen.6
Treffen Personen insbesondere des Typus (1) und (2) auf problematische vereinnahmende Fundamentalisten, kann es zu einer „Passung“ und intensiven persönlichen Bindung an entsprechende Kreise oder Gemeinden kommen. Die Suche nach Halt, Orientierung oder Bewältigung persönlicher Krisen kann v. a. bei autoritätsgläubigen Menschen zur Abhängigkeit oder gar Hörigkeit hinsichtlich machtbewusst auftretender „charismatischer“ Leitungspersonen führen.
Patriarchalisch-autoritäre Gemeinde- und Familienstrukturen sind erkennbar an religiös begründeten Machtstrukturen, die sich beispielsweise auf eine strikte Unterwerfung des Mannes unter „den Willen Gottes“, auf die Unterordnung der Frau unter den Willen des Mannes und die Unterordnung der Kinder gegenüber den Eltern berufen. Ein Missbrauch derartig definierter Autorität in problematischen fundamentalistischen Kreisen lebt dabei psychodynamisch gesehen vom Missbrauch der frommen Hingabebereitschaft der schwächeren Mitglieder.
Bei fundamentalistischen Gemeinschaften sind laut Hempelmann v. a. zu kritisieren:
„…
- Die Orientierung an charismatischen Führerpersönlichkeiten kann das Mündig- und Erwachsenwerden im Glauben verhindern,
- die Berufung auf die Bibel und auf den Heiligen Geist kann funktionalisiert werden für ein problematisches Macht- und Dominanzstreben,
- das gesteigerte Sendungsbewusstsein einer Gruppe kann umschlagen in ein elitäres Selbstverständnis, das sich scharf nach außen abgrenzt, im Wesentlichen von Feindbildern lebt und Gottes Geist nur in den eigenen Reihen wirken sieht.“7
Machtmissbrauch und Neigung zur Gewalt
Solcher Glaubenseifer, der sich auf den biblischen Missionsbefehl beruft, macht in der Konsequenz einen religiösen Dialog unmöglich. Entsprechende Meinungsführer fühlen sich ggf. durch eine höhere Macht dazu berufen, in selbstgerechter Weise biblische Aussagen durch Übertreibung zu entstellen oder sogar ins Gegenteil zu verkehren.
Beim problematischen Fundamentalismus kann zum religiösen Fanatismus eine Neigung zur Gewalt hinzu treten. Wenn zur Missionsarbeit unweigerlich die Bekämpfung von „äußeren Feinden“ gehört, muss folgerichtig auch mit einer Bekämpfung von „inneren Feinden“ in der Gemeinschaft bzw. Familie gerechnet werden. So kann selbst das eigene Kind mit seinen Bedürfnissen und seiner sich entwickelnden Eigenpersönlichkeit als „rebellisch“ gegen die Eltern und damit gegen den Willen Gottes gekennzeichnet werden. Derartige Propaganda kann in entsprechenden Gemeinden und Familien zur Legitimation missbraucht und damit (Mit-)Ursache von „häuslicher Gewalt“ und insbesondere von Kindesmisshandlung sein. Wenn die „Erbsünde“ oder der Einfluss des „Bösen“ im Kind angeblich nur durch Gewalt in der Erziehung zu beseitigen sein soll, spätestens dann ist die Aufmerksamkeit der Jugendhilfe gefordert.
Variantenreicher Fundamentalismus
Innerhalb des Gesamtspektrums unterscheidet Hempelmann weiter den Wort-Fundamentalismus vom Geist-Fundamentalismus. „Die eine Gestalt nimmt Bezug auf das unfehlbare Gotteswort in der Bibel (biblizistische, literalistisch-legalistische Orientierungen), die andere Gestalt sucht und findet Gewissheit in außergewöhnlichen Erfahrungen des Heiligen Geistes (enthusiastische, pfingstlich-charismatische, pentekostale Orientierungen).“8
In den letzten Jahren haben Gemeinschaften auffallend starken Zulauf, die sich einerseits besonders „jugendaffin“ geben und sich äußerlich durch modern wirkende Kultformen hervortun. Musikalischer High-Tech und Selbst-Stilisierung als „Gotteslob“ bei Superevents sorgen für eine hochemotionalisierte Stimmung in der Fan-Gemeinde. Andererseits werden aber hinter der Kulisse nicht selten erzreaktionäre Botschaften über Glaube, Selbstfindung, Gesellschaft, Ehe und Kindererziehung verkündet nach dem Motto: Selbstbefreiung durch „Lebensübergabe“ anstatt Emanzipation!
„Bibeltreue“
Die für den problematischen protestantischen Fundamentalismus zentrale Berufung auf seine angebliche „Bibeltreue“ kaschiert häufig nur seinen höchst selektiven Biblizismus. Es wird lediglich eine passende Auswahl von Textpassagen wörtlich genommen.
Als Erkennungszeichen unter Fundamentalisten dient häufig der Begriff „bibeltreu“ wie im Falle der „Konferenz Bibeltreuer Ausbildungsstätten“. In Formulierungen der vielzitierten „Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel“ heißt dies: „ […] 2. Da die Heilige Schrift Gottes eigenes Wort ist, das von Menschen geschrieben wurde, die der Heilige Geist dazu ausrüstete und dabei überwachte, ist sie in allen Fragen, die sie anspricht, von unfehlbarer göttlicher Autorität: Ihr muss als Gottes Unterweisung in allem geglaubt werden, was sie bekennt; ihr muss als Gottes Gebot in allem gehorcht werden, was sie fordert; sie muss als Gottes Zusage in allem aufgenommen werden, was sie verheißt. [ …] 4. Da die Schrift vollständig und wörtlich von Gott gegeben wurde, ist sie in allem, was sie lehrt, ohne Irrtum oder Fehler. Dies gilt nicht weniger für das, was sie über Gottes Handeln in der Schöpfung, über die Geschehnisse der Weltgeschichte und über ihre eigene, von Gott gewirkte literarische Herkunft aussagt, als für ihr Zeugnis von Gottes rettender Gnade im Leben einzelner. […].“
Der ungeschützte Begriff „Bibeltreue“ wird leider auch von problematischen Fundamentalisten gebraucht, um Seriosität und Verbundenheit mit anderen Christen vorzutäuschen, oder um zu proklamieren, dass sie – womöglich exklusiv – die wahre „Bibeltreue“ vertreten, während sie tatsächlich eine wie auch immer extreme, einseitige bzw. selektive Bibelauslegung betreiben. Ein typisches Beispiel für eine derartige „biblische“ Theologie als Fundamentalkritik an Schulpädagogik, Staat und Verfassung in Deutschland findet sich auf der Homepage eines öffentlich bekannten, bereits gerichtlich belangten christlichen Schulpflichtverweigerers, der u. a. darauf besteht: „Die Heilige Schrift lehrt homeschooling". (Der Autor dieser Schrift hat seine Internetseite inzwischen gelöscht, festgestellt am 25.01.2018; der Text liegt dem Bayerischen Landesjugendamt vor).
Aus Sicht der Jugendhilfe ist hier eine „unüberhörbare“ Klarstellung der Amtskirchen überfällig: Welche Bibelstellen sind hinsichtlich der in Deutschland geltenden Gesetze keinesfalls wörtlich auszulegen? Insbesondere hinsichtlich des Rechtsbegriffs des „Kindeswohls“ und der Gewaltfreiheit als Erziehungsleitbild im Sinne des Grundgesetzes ist hier endlich ein konsequenteres christliches „Machtwort“ angebracht. Durch eine deutliche Abgrenzung kann auch der Vereinnahmung „normaler“ Kirchenchristen durch problematische fundamentalistische Kreise am Rande der Kirchen vorgebeugt werden. Insbesondere ist dabei an junge Christen zu denken, die auf der Suche nach einem sinnvollen Engagement oder einer eindeutigen Orientierung sind.
Zumindest zum Umgang mit Bibeltexten für den Bereich der reformatorischen Bekenntnisse bezieht Hempelmann hier schon einmal wohltuend deutlich Stellung: „In der Frage der Begründung der Glaubensgewissheit differieren reformatorisches und fundamentalistisches Bibelverständnis an einem entscheidenden Punkt. Die reformatorische Theologie verzichtete darauf, die Verlässlichkeit des göttlichen Wortes durch ein Verbalinspirationsdogma zu sichern. Ebenso verneinte sie eine prophetische Unmittelbarkeit, die sich vom Wort der Schrift und den äußeren Mitteln göttlicher Gnadenmitteilung loslöst und bestand auf der Wortbezogenheit des Geistwirkens. Gegenüber einem Wortfundamentalismus ist hervorzuheben, dass es Gottes heilvolle Nähe in seinem Wort nur in gebrochenen und vorläufigen Formen gibt. Die Bibel ist weder in den zentralen reformatorischen Bekenntnistexten noch in den altkirchlichen Symbolen Gegenstand des Heilsglaubens.“9
Aus Jugendhilfesicht ist dabei immer zu differenzieren, dass eine willkürlich-selektive Bibeltext-Interpretation für sich allein hinsichtlich Erziehung und Kindeswohl bei Anhängern fundamentalistischer Sichtweisen letztlich von der Religionsfreiheit gedeckt ist. Erst die damit u. U. verbundene Vehemenz der Umsetzung im Erziehungsalltag, der Rigorismus und eine Neigung zur Gewalt, die sich engstirnig auf isolierte, extreme Glaubensgehalte berufen (weil dies angeblich „Gottes Wille“ sei!), stellen mit ihren konkreten Auswirkungen auf das Kind und die Familie das eigentliche Problem dar.
Calvinismus
Neben Martin Luther und Huldrych Zwingli war Jean Calvin der wirkungsmächtigste Reformator des Protestantismus.
Die sich auf den Reformator Jean Calvin konkret berufenden Kirchen nennen sich selbst „Reformierte Kirchen“, während der Überbegriff „Calvinismus“ den maßgeblichen Einfluss Calvins insbesondere auf die Vielzahl protestantischer Kirchen und Denominationen gerade im anglo-amerikanischen Raum bezeichnet.
Die „Evangelische Kirche in Deutschland“(EKD) definierte im Jahr 2015 den Calvinismus in ihrem offiziellen online-„Glaubens-ABC“ kurz und bündig wie folgt:
„Von der Reformation lutherischer Prägung unterscheidet er sich im Verständnis des Abendmahls, vor allem aber durch den Gedanken der Prädestination (Vorsehung). Demnach ist der Mensch von Gott entweder zur Seligkeit oder zur Verdammnis vorherbestimmt. Ob der Weg in den Himmel oder in die Hölle führt, lässt sich am ehesten am Erfolg bzw. Misserfolg eines Menschen ablesen.“
Gerade dieses calvinistische Selbstverständnis bildet nicht selten den Nährboden für das grundsätzlich negative Menschen- und Weltbild, wie es in den problematischen „Erziehungsratgebern“ fundamentalistischer Protestanten aus den USA überdeutlich zum Ausdruck kommt. Gerade solchermaßen gläubige Eltern werden mit der Situation konfrontiert, ihre Kinder frühestmöglich zum Gehorsam und irdischen Erfolg zu erziehen, obwohl das jenseitige „Ewige Leben“ bereits schicksalhaft festgelegt sein soll. Wird trotz aller Erziehungsbemühungen der gewünschte Erfolg nicht sichtbar, erscheint das Bestrafen und „Unschädlichmachen“ böser („rebellischer“) Kinder womöglich als einzige zielführende Methode. Als Folge der Bezichtigung als „böse“ oder „sündig“ können Kinder im fundamentalistischen Umfeld systematisch dämonisiert und damit psychisch massiv misshandelt werden, was je nach „Stabilität“/Resilienz der davon Betroffenen zur Selbst-Aufgabe bzw. Verzweiflung mit den bekannten psychischen Beeinträchtigungen führen kann.
2. Besondere Schwerpunkte aus Sicht der Jugendhilfe:
2.1 Welche biblischen Weisheiten können heute noch missbraucht werden zur „Auf-Zucht“ von Kindern?
Und was besagt dagegen die „Frohe Botschaft“ Jesu als Ausgangspunkt christlicher Erziehung?
In der Bibel lässt sich eine ganze Reihe von Anweisungen zur „Züchtigung“ finden, die nach unserem heutigen Verständnis als Aufforderung zur Kindesmisshandlung interpretiert werden müssen:
- Wenn ein Mann einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat, der nicht auf die Stimme seines Vaters und seiner Mutter hört, und wenn sie ihn züchtigen und er trotzdem nicht auf sie hört [...] Dann sollen alle Männer der Stadt ihn steinigen und er soll sterben. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Ganz Israel soll davon hören, damit sie sich fürchten. (5. Buch Mose 21,18–21)
- Wen der Herr liebt, den züchtigt er, wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat (Sprüche 3,12; Einheitsübersetzung 1981); oder in bereits entschärfter Übersetzung: Denn wen der HERR liebt, den weist er zurecht, und hat doch Wohlgefallen an ihm wie ein Vater am Sohn (Luther-Bibel 1968)
- Wer Zucht liebt, liebt Erkenntnis, wer Zurückweisung hasst, ist dumm. (Sprüche 12,1)
- Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht. (Sprüche 13,24)
- Du schlägst ihn mit dem Stock, bewahrst aber sein Leben vor der Unterwelt. (Sprüche 23,14)
- Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat. (Hebräer 12,6)
Mit letzterem Vers (Hebräer 12,6) hat es unter den problematischen Sprüchen des Alten Testaments in besonders wirkungsvoller Weise der Vers Sprüche 3,12 (s. o.) ins Neue Testament „geschafft“. Der im Neuen Testament singuläre Spruch heißt dort: “Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat“(Hebr.12, 6; Einheitsübersetzung 1981 bzw.:“ Denn welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er, und er straft einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt“ (Lutherbibel 1968). Man beachte die Radikalisierung gegenüber dem Alten Testament, Sprüche 3,12: jeden Sohn. Dass die Töchter davon nicht ausgenommen sind, ist für den patriarchalisch-autoritär eingestellten Autor wohl nicht einmal weiter erwähnenswert.
Im Gegensatz zu diesen biblischen Anweisungen kann die/der wohlgesonnene Bibelleserin und Bibelleser sehr wohl die Verkündigung Jesu als ethischen Maßstab für sein (erzieherisches) Handeln wählen und sich am Gebot der Nächstenliebe, ja der Feindesliebe orientieren (s. „Bergpredigt“, Mt 5,43-47 und „Feldrede“, Lk 6,27 sowie 6,32-36). Der gravierende Unterschied (zum Alten Testament) der Einstellung Jesu den Kindern gegenüber wird in der herausragenden Szene in Mt. 19, 13-14 deutlich:
„Die Segnung der Kinder: Da brachte man die Kinder zu ihm, damit er ihnen die Hände auflegte und für sie betete. Die Jünger aber wiesen die Leute schroff ab. Doch Jesus sagte: Laßt die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Himmelreich.“ (Einheitsübersetzung) Jesus trat hier ausdrücklich der Kinderfeindlichkeit seiner Jünger(!) entgegen und zeigte ihnen(!) gerade am Beispiel der Kinder (generell), wer berechtigt ist, „das Himmelreich zu gewinnen/ zu erben“.
Wie diese eigentlich eindeutig formulierten Gebote im Laufe der Kirchengeschichte eine negative Veränderung und Engführung erfahren konnten, ist leider bereits im Neuen Testament sichtbar. Als „der Nächste“ wurde bereits bei Paulus v. a. „der Bruder im Herrn“ verstanden. Insbesondere „die Juden“, unbekehrbare Heiden und Sünder, Ungläubige, Ketzer oder gar Abtrünnige wurden dagegen bald als zu bekämpfende (Gottes-)Feinde ausgemacht. Hier kann auch ein Grundstein liegen für den Hass vieler problematischer Fundamentalisten, deren Profilierung sich entsprechend deutlich an ihren Feindbildern erkennen lässt, ja deren jeweiliges (als Projektion austauschbares) Feindbild häufig ihre vorrangige Orientierungsleitlinie darstellt.
Zur Suche nach dem „äußeren“ Feind kann die Suche nach dem Feind „im eigenen Lager“ dazukommen, insbesondere wenn der äußere Feind (bisher) übermächtig und unangreifbar erscheint. Auch wenn die Mission dem Kampf gegen den „Fürsten der Welt“ oder pauschal der sündhaften Moderne in der westlichen Welt gilt, liegt es nahe, bei sich zu Hause anzufangen, weil bei den eigenen Kindern noch die besten Chancen für eine entsprechende Menschenführung oder gar Indoktrination aufscheinen.
Nach dem Schema von Treue vs. Verrat kann es zu Erziehungsleitbildern und Grundhaltungen kommen, die im Kind v. a. den künftigen Kämpfer für die Sache der „Rechtgläubigen“ wahrnehmen oder das Kind als dafür ungeeignet oder gar schädlich einschätzen. Hier droht die Gefahr, dass das Kind von vornherein als durch die „Erbsünde“ gezeichnet verstanden wird, von der es durch eine Erziehung nach dem „Willen Gottes“ zu befreien ist. Dann droht die Gefahr, dass nicht nur das „rebellische Kind“ zum „Feindbild Kind“ an sich, zum reinen Objekt von Erziehungs- oder gar Bekämpfungsmaßnahmen erniedrigt wird, sondern dass alle Kinder ohne Unterschied „gezüchtigt“ werden müssen, um sie damit zu „retten“.
Das aus einem solchen Verständnis im Extremfall entstehende „dogmatisch-machtorientierte Erziehungsverständnis“ zeichnet sich dadurch aus, dass „nicht die klassischen [fundamentalistischen] Feindbilder wie eine Gesellschaft ohne Werte, der Humanismus oder die antiautoritäre Erziehung beschworen [werden]. […] Beim machtorientierten Verständnis muss der Feind an einem anderen Ort gesucht werden, er befindet sich innerhalb der Ingroup selbst: Erschütternder Weise ist der Feind das Kind.“10
Ein weiterer, hier relevanter Streitpunkt protestantischer Bibelinterpretationen betrifft das sog. Böse, die Figur des Satans, die apokalyptischen Bilder von der drohenden ewigen Verdammnis und die Dämonisierung von angeblich feindlichen Mächten. Aus Sicht der modernen, wissenschaftlich fundierten Theologie kann sich die „Frohe Botschaft“ des Neuen Testaments sehr wohl auf das von aller apokalyptischen Angst befreiende Jesus-Wort in Lukas 10, 18 und 19 berufen, denn: „(18)Da sagte er zu ihnen: Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen. (19)Seht, ich habe Euch die Vollmacht gegeben, […] die ganze Macht des Feindes zu überwinden. Nichts wird Euch schaden können.“ Dieser wohl authentische Ausspruch Jesu zeugt von seiner Gewissheit, dass die entscheidende Wende, das Neue seiner Botschaft, die Entmachtung Satans nicht mehr in der Zukunft liege, sondern bei Gott bereits erfolgt sei. „Nicht auszuschließen ist, dass dieses Logion die Berufungsvision Jesu zusammenfasst, die ihm möglicherweise bei seiner Taufe zuteil geworden ist.“11 Der zentrale Duktus der Verkündigung Jesu zielt nicht (mehr) auf die Angst machende Drohung vor dem kommenden Gericht, sondern auf die frohmachende Zusage der Gegenwart des Heils.12 Damit verbietet sich für Christen das Schüren apokalyptischer Ängste vor dem Endgericht und der Zwang, den Mitmenschen oder gar das eigene Kind zum (Erziehungs-)Objekt für den Kampf gegen „das Böse“ zu degradieren.
2.2 Beispiele besonders problematischer Erziehungsvorstellungen und Praktiken
Züchtigung von Kindern bei den „Zwölf Stämmen“
Die weltweit vertretene, vorgeblich „urchristliche“ Gemeinschaft der „Zwölf Stämme/The Twelve Tribes“ erregte in den letzten Jahren in Deutschland immer wieder große Aufmerksamkeit. Vor allem die (biblisch begründeten!) Erziehungspraktiken führten immer wieder zu Auseinandersetzungen, die schließlich aufgrund des erbrachten Nachweises regelmäßiger körperlicher Züchtigungen in der Herausnahme von insgesamt 40 Kindern im September 2013 gipfelten.
Zu Beginn des Erziehungshandbuchs der „Zwölf Stämme“: „Our Child Training Manual“ wird das zentrale Erziehungsleitziel von problematischen fundamentalistischen Gemeinschaften exemplarisch definiert:
"Die Kontrollphase schafft die rechtmäßige Herrschaftsgewalt, mit der Eltern über den Willen ihrer Kinder verfügen. Wenn Eltern ihre Kinder kontrollieren können, haben sie die nötige Grundlage für deren Gehorsam und die Belehrung über die Gebote/Vorschriften gelegt. Dann werden ihre Kinder imstande sein, Söhne und Töchter des Gebotes (Joh.14:21, 23, 2413) zu werden." [...] " Spr. 22:6 gilt absolut / uneingeschränkt, sofern Eltern ihrem Vater im Himmel von Herzen Gehorsam leisten. Die Eltern müssen die Gebote der Schrift als absolute Wahrheit und unendlich überlegen gegenüber jedweder menschlichen Methode, jedwedem Erziehungssystem oder Denken anerkennen. Es kann hier keinen Kompromiss durch einen Versuch geben, das Wort Gottes, wie es in den Schriften steht, mit irgendwelchen menschlichen Philosophien, Psychologie, Soziologie, religiösen Ansichten oder öffentlicher Meinung vereinbar zu machen.
Gottes Wort ist absolut zu akzeptieren ohne Verfälschung durch Menschenhand. Das Wort ist lebendig und kraftvoll und heute wichtiger als in irgendeinem anderen Zeitalter der Menschheitsgeschichte.“14 [Übersetzung des Autors]
Dazu aus einem — mittlerweile aus dem Netz genommenen — Beitrag der „Zwölf Stämme“:
„Befinden wir uns in der Zeit, die Paulus in 2.Tim 3,1-3 beschreibt?
Das sollst du wissen: In den letzten Tagen werden schwere Zeiten anbrechen. Die Menschen werden selbstsüchtig sein, habgierig, prahlerisch, überheblich, bösartig, den Eltern ungehorsam, undankbar, ohne Ehrfurcht, lieblos, unversöhnlich, verleumderisch, unbeherrscht, rücksichtslos, grob, heimtückisch, verwegen, hochmütig, mehr dem Vergnügen als Gott zugewandt. Den Schein der Frömmigkeit werden sie wahren, doch die Kraft der Frömmigkeit werden sie verleugnen.
Kinder, die den Eltern ungehorsam sind, werden unter den Zeichen der Endzeit aufgeführt. Warum? Sind nicht all diese aufgelisteten Eigenschaften auf mangelnde Kindererziehung zurückzuführen?“15
Unter den vielen persönlichen Berichten von Kindern der „Zwölf Stämme“ auf deren Homepage lobt folgende Darstellung bezeichnenderweise die angewandten Erziehungspraktiken — sozusagen „am eigenen Leib erfahren“ — und deren „bibeltreue“ Legitimation:
Ich war auch eines der Kinder, die den Segen hatten, mit einer Absicht auf die Welt zu kommen und erzogen zu werden. Meine Eltern haben mich nach dem Wort Gottes, wie es in der Bibel steht, erzogen. Wie der Spruch 22,6 besagt, wird ein Mensch später so sein, wie man ihn als Kind erzogen hat.[…] Weil also meine Eltern selber eine Absicht im Leben hatten und für uns dieselbe Absicht hatten, gehorchten sie den Anweisungen in Sprüche 23,14-15 und 13,24.
Sprüche 23:14,15
14 Indem du ihn mit der Rute schlägst, rettest du seine Seele vom Tode. 15 Mein Sohn, wenn dein Herz weise wird, so ist das auch für mein Herz eine Freude!
Sprüche 13:24
24 Wer seine Rute spart, der haßt seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn beizeiten.
Sie tolerierten keinerlei Ungehorsam, Respektlosigkeit oder Rebellion. Ich erinnere mich aber daran, dass ich immer wusste, wie ich ihnen gefallen konnte. Es war mir ein Bedürfnis, sie glücklich zu machen. Der Gedanke daran, dass sie meinetwegen Kummer haben würden, war für mich schrecklich. Dennoch wäre ich, wenn es doch vorkam, nie weggelaufen, um mich für eine Weile zu verstecken – denn ich wusste, dass ich nur, wenn ich meine Disziplin empfangen würde, wieder bessere Gefühle bekommen würde. Deshalb mussten sie niemals wütend oder frustriert werden und hatten nie die Nase voll von mir, denn alles blieb immer einfach und klar. Dann haben sie mir vergeben und alles war gut. Ich wusste immer, dass ich geliebt werde – weil sie mich disziplinierten.
Bei Disziplin geht es niemals um Strafe und ist erst recht kein Kanal, um Frustration abzulassen. Disziplin ist die Art und Weise unseres Vaters im Himmel, einem Kind das Gute und dem Vater und der Mutter Wohlgefällige aufzuzeigen, ebenso das Schlechte, das ihnen nicht gefällt.
Wenn ich Kinder sehe, deren Eltern sie nicht disziplinieren, dann tun sie mir leid. Sie erfahren nur selten, dass ihre Eltern Freude an ihnen haben oder wissen gar nicht, wie sie ihnen überhaupt gefallen können – weil sie nicht gelehrt werden, sondern lediglich toleriert werden. [ …]“16
Zwei von der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM)“ indizierte (Internet-)
Erziehungsratgeber über Züchtigung als grundlegendes Erziehungsmittel
a) Entscheidung Nr. 11264 (V) vom 16.12.2013 zum Internet-Beitrag :
„Warum die Rute gerecht ist“; Autor: Pastor Robert L. (Bob) Deffinbaugh;
Hampton Keathley, Garland, USA17
In der ausführlichen Darstellung und Begründung der BPjM wird die Propagierung der Notwendigkeit körperlicher Züchtigung als vorrangiger Erziehungsmethode in diesem umfänglichen „bibeltreuen“ Internet-Ratgeber verurteilt. Hervorgehoben werden dabei in der Entscheidung folgende Behauptungen:
„ …
1. „DIE BIBEL FORDERT DEN GEBRAUCH DER RUTE, WEIL WIR VON SELBST NICHT VON IHR GEBRAUCH MACHEN WÜRDEN.“
[Argument: Die meisten Eltern würden ihre Kinder aus verschiedenen Gründen von sich aus nicht züchtigen, weshalb sie von Gott bzw. der Bibel dazu angehalten werden müssen.]
2. „DIE RUTE IST ERFORDERLICH, UM DIE SÜNDE DER KINDER IN GRENZEN ZU HALTEN.“
[Argument: Wie die Regierung die Bürger mit Strafen – etwa der Todesstrafe – von Sünden abhält, hält körperliche Züchtigung Kinder von Sünden ab – „So wie die Regierung das Schwert trägt, so halten Eltern die Rute.“]
3. „DIE RUTE IST ERFORDERLICH, WEIL SIE DEN CHARAKTER EINES KINDES OFFENLEGT.“
[Argument: Körperliche Züchtigung ist eine Charakterprüfung für das Kind, das die Bestrafung im Idealfall akzeptiert und im Anschluss Reue und Besserung zeigt.]
4. „DIE RUTE IST ERFORDERLICH, UM DAS KIND ETWAS ZU LEHREN.“ „DIE RUTE IST ERFORDERLICH, WEIL ES VERHEERENDE FOLGEN HAT, WENN MAN IHREN GEBRAUCH UNTERLÄSST.“
5. „DIE RUTE IST ERFORDERLICH, WEIL SIE GERECHT IST UND WEIL GOTT BEI SEINEN KINDERN VON DER RUTE GEBRAUCH MACHT.“
In der Schlussfolgerung heißt es: Wir können aus den Schriften keinen anderen Schluss ziehen als den, dass die Gerechtigkeit nach der Rute verlangt. Gottes Gerechtigkeit erfordert es, dass Er die Ungläubigen richtet und Sein eigenes Volk züchtigt.“18
Die Anweisungen zur Gewaltanwendung in diesem „Ratgeber“ auch schon in Bezug auf ganz kleine Kinder („Die Rute dient zur Anleitung derer, die Erklärungen noch nicht zugänglich sind“) werden von der BPJM entsprechend deutlich bewertet. So werde das Grundrecht von Minderjährigen auf körperliche Unversehrtheit in extremer Weise negiert. Das Schlagen mit harten Gegenständen wie Rute oder Schlagstock zum Erreichen von Demut und Fügsamkeit bei Kindern werde befürwortet und verharmlost. „Gerade die Achtung der körperlichen Unversehrtheit anderer Personen sowie die Vermittlung von gewaltfreiem Verhalten gehören zu den wichtigsten Erziehungszielen, die gewährleisten, dass Kinder und Jugendliche sich zu gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten entwickeln.“
Aus Sicht des Kinder- und Jugendmedienschutzes wie der Jugendhilfe insgesamt, kommt gerade am Beispiel der Indizierung dieses Internetangebots ein gravierendes Problem hinsichtlich seiner Verbreitung hinzu. So stellt die BPJM auf S. 13 fest: „Da das Medium Internet-weit verbreitet und für Kinder und Jugendliche leicht zugänglich ist, kann auch nicht von einem nur geringen Verbreitungsgrad ausgegangen werden.“ Umso schlimmer ist, dass sich der US-amerikanische Anbieter „einen Teufel“ um die Entscheidung der BPJM (und damit um deutsches Recht…) „schert“, und die kritisierte Seite weiterhin unverändert ins Internet stellt.
b) Entscheidung Nr. 10919 (V) vom 5.4.2013 bekannt gemacht im Bundesanzeiger AT vom 30.4.2013 : Das Buch „Eltern – Hirten der Herzen“ von Tedd Tripp, 3L Verlag gemeinnützige GmbH, Waldems19
Auch zu dem Erziehungsratgeber dieses US-amerikanischen Pastors wird das „Tatbestandsmerkmal ´Gefährdung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihrer Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit` in § 18 Abs. 1 Satz 1 JuSchG nach ständiger Spruchpraxis der Bundesprüfstelle sowie höchstrichterlicher Rechtsprechung“ festgestellt.20
Die BPjM begründet ihre Indizierungs-Entscheidung hier aufgrund ähnlicher, vorgeblich streng „bibeltreuer“ Aussagen und Anweisungen und greift folgende Textbeispiele aus dem indizierten Buch als beispielhaft für den gefährdenden Charakter der Anweisungen dieses Autors heraus:
„Die „Rute“ ist per Definition eine elterliche Pflicht.“ (S. 135)
„Körperliche Züchtigung anzuwenden, das ist auch ein Akt des Glaubens. Gott hat ihren Gebrauch angeordnet.“ (S. 136)
„Die „Rute“ ist aber auch ein Ausdruck der Treue gegenüber dem Kind.“ (S. 136)
„Die „Rute“ ist eine Verantwortung.“ (S. 136)
„Die „Rute“ ist eine „Rettungsmission“. Das Kind, das diszipliniert werden muss, hat sich von seinen Eltern durch Ungehorsam distanziert.“ (S. 137)21
Insgesamt durchzieht das Buch die Forderung, dass man dem Kind Schmerz zufügen müsse, z. B.: „Es ist wichtig, dass dein Kind spürt, dass es gezüchtigt wird. Es hilft nichts, wenn Windeln oder andere Kleidungsstücke körperliche Züchtigung zur Streicheleinheit machen.“ Zeigt das Kind Zorn oder lehnt es die Disziplinierung ab, muss die Züchtigung notwendigerweise wiederholt werden (vgl. S. 182).
Als besonders gravierend hat das Gremium auch die Tatsache angesehen, dass die Züchtigung für kleinere Kinder (Säugling bis zum Vorschulalter) eher gefordert wird als für ältere Kinder, für die neben der Züchtigung die Kommunikation ebenso (aber nur ebenso) entscheidend sei.22
3. Der rechtliche Maßstab des Kindeswohls in Deutschland
„Das Kind ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit [und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit; Ergänzung durch den Autor] im Sinne der Art. 1 I und Art. 2 I [u. Art. 2 II] GG. Eine Verfassung, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertsystems stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen respektieren. Die Anerkennung der Elternverantwortung findet daher ihre Rechtfertigung darin, daß das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbilde des Grundgesetzes entspricht […]. Hierüber muß der Staat wachen und notfalls das Kind, das sich noch nicht selbst zu schützen vermag, davor bewahren, daß seine Entwicklung durch einen Mißbrauch der elterl. Rechte oder eine Vernachlässigung Schaden leidet."23
Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) betont in Artikel 19 : Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung.
Nicht nur nebenbei sei dazu erwähnt: „Bis auf die USA haben alle Staaten die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert.“24 Inwiefern das der politischen Macht fundamentalistisch-christlicher Kreise in den USA geschuldet ist, die neben anderen besonderen Freiheitsrechten auch auf das Recht von Eltern oder sogar Schullehrern nicht verzichten wollen, ihre Kinder nach Gutdünken zu „züchtigen“, steht wohl kaum in Frage. Relevant ist dieser Hinweis für uns deshalb, weil überwiegend aus den USA die von deutschsprachigen Kinder- und Jugendschutzstellen als gefährdend eingestuften protestantisch-fundamentalistischen „Erziehungsratgeber“ stammen, die im deutschsprachigem Raum in den „einschlägigen“ Kreisen die Runde machen (s. Beispiele o. unter 2.).
Zu den entsprechenden sozialpolitischen Folgewirkungen im Kulturvergleich siehe auch die Einschätzungen von Prof. Christian Pfeiffer (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN))
Die umfänglichen Untersuchungen des KFN zur Thematik sind aus evangelikalen und fundamentalistischen Kreisen naturgemäß nicht unwidersprochen geblieben, wie in den Fußnoten 25a und 25b dokumentiert ist.
Im deutschen Recht wird das Kindeswohl in § 1631 BGB Abs. 2 bestimmt: Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.
Dem kann aber selbst in Deutschland das Rechtsverständnis eines Vorsitzenden Richters eines Landgerichts (lt. Angaben des Herausgebers) entgegenstehen. Verschiedene problematische Aussagen seines (unter einem Pseudonym) auch im Internet verbreiteten juristischen Fachartikels in der Zeitschrift der „Konferenz für Gemeindegründung“ mit dem Titel: „Juristische Aspekte körperlicher Züchtigung“ sprechen für sich:
„Anders als Gott und Sein Gesetz ist das von Menschen gesetzte Recht schon immer veränderbar gewesen.“ „Was staatliche Strafe bezweckt, nämlich die Besserung des Betroffenen, soll elterlichen Strafen also versagt sein.“
„Nach der inzwischen aber wohl überwiegenden Meinung erfüllen auch diese „leichten“ Körperstrafen den Tatbestand der Körperverletzung.“
„Die juristische Beurteilung körperlicher Züchtigung von Kindern durch ihre Eltern entspricht nicht dem biblischen Befund.“
[Und im Schlussabsatz:]
„Die Gretchenfrage in diesem Zusammenhang lautet, ob wir Gott mehr gehorchen wollen oder nicht. Dies ist eine Gewissensentscheidung, die jeder für sich zu treffen hat und die ich jedem selbst überlassen möchte.“26
Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde prägte den berühmt gewordenen Satz: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Dieses grundsätzliche Dilemma sieht der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD Bischof Wolfgang Huber in Zusammenhang mit der in Deutschland vorherrschenden „Zivilreligion“, die er dabei von derjenigen in den USA unterscheidet. Er führt dazu für den deutschen Rechtsstaat als Grenzziehung Folgendes aus:
„Der Staat verzichtet also darauf, selbst die Voraussetzungen zu definieren, aus denen sich Freiheitsbewusstsein und Verantwortungsbereitschaft erneuern. Aber es ist ihm nicht gleichgültig, ob es Institutionen gibt, die sich um den Inhalt und die Weitergabe solcher Voraussetzungen kümmern. Er sieht sich zur Religionsneutralität verpflichtet. Aber er hat gute Gründe, diese Religionsneutralität mit einer die Religion fördernden Haltung zu verbinden. Seine Religionsneutralität verpflichtet den Staat grundsätzlich dazu, die Freiheit aller Religionen in gleichem Maß zu achten. Aber es kann ihm nicht gleichgültig sein, in welchem Verhältnis die Religionen zur Verfassung des freiheitlichen, säkularisierten Staates stehen. Insofern hat er eine besondere innere Affinität zu der Unterscheidung zwischen Staat und Religion, die eine unaufgebbare Voraussetzung für die aufgeklärte Säkularität der Rechtsordnung bildet.“27
Hinsichtlich der „Staatstreue“ zeigt sich so ein bezeichnender Unterschied zwischen dem Selbstverständnis der deutschen (Amts-)Kirchen als Körperschaften eines demokratischen Rechtsstaates und der Haltung problematischer fundamentalistischer Gemeinschaften und Bewegungen, die theokratisch anmutenden Intentionen folgen. Bestimmte Fundamentalisten erklären genau die kooperative Haltung der großen Kirchen in Deutschland gegenüber dem freiheitlichen Rechtsstaat zum schlimmsten Verrat an ihrer Religion (s. z. B. oben: „Die Heilige Schrift lehrt `homeschooling´“ Dieser zwischenzeitlich aus dem Netz genommene Text liegt dem Bayerischen Landesjugendamt vor).
Auf das Kind bezogen ist das Recht des § 1 SGB VIII maßgeblich, wonach jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat.
Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Entziehung der elterlichen Sorge bei Kindeswohlverletzungen nach §1666 BGB (Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls) u. § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) hat das Bundesverfassungsgericht aktuell mit Beschluss (- 1 BvR 1178/14 - ) vom 19.11.201429 (bzw. Pressemitteilung des BVerfG v. 28.11.14) maßgebliche Grundsätze festgehalten.
So haben die Fachgerichte im Einzelfall, um eine Trennung des Kindes von seinen Eltern zu rechtfertigen, festzustellen, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt es nur dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Eine Herausnahme und Fremdunterbringung setzt i. d. R. voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Stützen sich die Gerichte dabei auf Feststellungen in einem Sachverständigengutachten, darf dessen Verwertbarkeit keinen verfassungsrechtlichen Zweifeln unterliegen. Um diese auszuräumen, haben die Gerichte die Feststellungen in den Gutachten eigenständig tatsächlich einzuordnen und rechtlicher Würdigung zu unterziehen.
„Die Gefahrenfeststellung darf zwar auf mögliche Defizite bei der Erziehungsfähigkeit von Eltern eingehen, muss aber begründen, dass sich daraus ergibt, von welcher Art, Schwere und Wahrscheinlichkeit die deswegen befürchteten Beeinträchtigungen des Kindes sind, und weshalb diese Gefahren so gravierend sind, dass sie beispielsweise eine Fremdunterbringung legitimieren. „Für die Fachgerichte ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 und 3 GG das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen und sie vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu bewerten. Stützen die Gerichte eine Trennung des Kindes von den Eltern - wie hier - auf Erziehungsdefizite und ungünstige Entwicklungsbedingungen, aus denen die erhebliche Kindeswohlgefährdung nicht ausnahmsweise geradezu zwangsläufig folgt, müssen sie sorgfältig prüfen und begründen, weshalb die daraus resultierenden Risiken für die geistige und seelische Entwicklung des Kindes die Grenze des Hinnehmbaren überschreiten.“30
Nicht zuletzt sei hier auf das Gesetz über die religiöse Kindererziehung (RelKErzG) hingewiesen, aus dem sich die auch von den Familiengerichten ernstzunehmenden Rechte von Kindern und Jugendlichen auf Religionsfreiheit und Religionsmündigkeit ergeben.
Der Kindeswille und die volle Religionsmündigkeit mit 14 Jahren sind damit auch in den Fällen zu berücksichtigen, wenn Minderjährige sich beispielsweise weigern, aus einer (vorübergehenden) Fremdunterbringung zurück zur leiblichen Familie in eine Religionsgemeinschaft zu gehen, die den Familienalltag rund um die Uhr bestimmt und vielleicht sogar die Schulpflicht verweigert (s. Beispiel „Zwölf Stämme“).
Elterliches Erziehungsverhalten
Es ist in jedem Einzelfall abzuwägen, inwieweit die Eltern in ihrer Person solche (problematischen) Einstellungen, Erziehungsziele und -methoden repräsentieren, die den rechtlichen und allgemein anerkannten außerrechtlichen Standards widersprechen und im konkreten Fall eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.
Es widerspricht dabei dem Art. 4 Abs. l GG, die Eignung zur Erziehung des Kindes allein mit dem Hinweis auf die aktive Mitgliedschaft in einer bestimmten Glaubensgemeinschaft abzusprechen (OLG Stuttgart, FamRZ 95, 1290; OLG Saarbrücken, FamRZ 96, 561).
Eine Kindeswohlgefährdung ist näher zu prüfen, wenn die Eltern Erziehungsmethoden und -ziele praktizieren bzw. verfolgen, für die z. B. kennzeichnend sind:
- Gewaltanwendung als Erziehungsmittel (Züchtigung)
- entwürdigende Überwachungsmaßnahmen
- Schaffung von Abhängigkeitsverhältnissen
- Leugnung der Komplexität der Welt
- exklusiver Anspruch auf Wahrheit
- Denken in Freund-Feind-Schemata und das Kind wird hierbei zur Loyalität gegenüber Eltern / Lehre gezwungen
- Ausgrenzung von distanzierten/kritischen Familienmitgliedern / bisherigen Freunden (z. B. durch Kontaktverbote / "Gemeinschaftsentziehung")
- Vehemente Abwehr jeglicher Kritik
- Aufforderung zur Denunziation Andersdenkender/-gläubiger („Verhetzung“ als angeblicher Missionsauftrag)
- Soziale Isolation des Kindes
- Drohungen/Hervorrufen existenzieller Ängste als Erziehungsmittel
(Die genannten Punkte sind beispielhaft und keinesfalls abschließend!)
Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls nach § 1666 BGB sind seit 2008 näher festgelegt
(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.
[(2) …]
(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere
1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,
4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,
5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,
6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.
(4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.31
4. Ausblick
„Wir müssen Kindern politisch und gesellschaftlich den Stellenwert einräumen, den sie verdienen. Denn Kinder sind das Fundament unserer Gesellschaft. Sie haben das Recht, durch eine liebevolle und fürsorgliche Erziehung im Geist des Friedens, der Würde, der Toleranz, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität auf ein individuelles Leben in der Gesellschaft vorbereitet zu werden – so lautet die Präambel der UN-Kinderkonvention.“ So beschloss Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit bereits 2001 ihren Artikel „Das Kind als Träger eigener Rechte - Der lange Weg zur gewaltfreien Erziehung“32.
Deshalb erscheint es auch noch 15 Jahre nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ dringend erforderlich, auf die Missachtung dieses Gesetzes bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung33 ein wachsames Auge zu haben und Kindeswohlverletzungen und Misshandlungen zu verhindern. Einen wichtigen Signalcharakter hatten hier in letzter Zeit in einer breiteren Öffentlichkeit gerade die differenziert und wohlausgewogen getroffenen Gerichtsentscheidungen, die im Falle der „Zwölf Stämme“ und der sog. „Sektenkinder von Lonnerstadt“ erwirkt wurden. Derartige Entscheidungen führen nicht nur zu einer fachlichen Abklärung wertvoller Kriterien für die Jugendhilfepraxis, sondern haben auch eine maßgeblich orientierende, warnende und aufklärende Funktion hinsichtlich der in Erziehungsverantwortung stehenden Eltern und Bürger.
Durch den Tenor dieses Artikels könnte der falsche Eindruck entstehen, dass es der Jugendhilfe hinsichtlich des religiösen „Fundamentalismus“ vor allem um den Aspekt der körperlichen Gewalt in der Erziehung gehe. Dem ist nicht so, vielmehr handelt es sich bei den „Körperstrafen“ meist „nur“ um die von außen leichter sichtbare „Spitze des Eisbergs“ von psychischer Gewalt bzw. von problematischer Erziehung überhaupt. Es ist andererseits auch keine Lösung, aus der berechtigten Kritik an fragwürdiger Religiosität heraus eine bewusste religiöse Kindererziehung überhaupt zu verurteilen.34 Wie eine dem Kindeswohl und einer gelingenden liebevollen Erziehung entsprechende Grundhaltung positiv formuliert werden kann, zeigt hier beispielsweise die Übersicht des Kinder- und Jugendpsychiaters Gunther Klosinski in seinem Beitrag auf: „Wann ist religiöse Erziehung gelungen?“35
Zum Schluss sei — zur erneuten Lektüre — an die Rede Astrid Lindgrens mit dem Titel: „Niemals Gewalt!“36 anlässlich des 1978 an sie verliehenen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels erinnert. Hier wurde aus wirklich christlichem Geist und konsequent gegen das (biblische) Motto: "Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben!" zur Gewaltfreiheit in der Erziehung aufgerufen, wie man das von offiziell amtskirchlicher Seite in Deutschland bis heute zumindest in dieser Leidenschaft und Eindeutigkeit leider weiterhin vermissen muss.
Helmar Bluhm
(Überarbeitete / aktualisierte Fassung: Oktober 2018)
______________________________
1 Beinert, Wolfgang et al., „`Katholischer´ Fundamentalismus – Häretische Gruppen in der Kirche?“, Regensburg 1991
2 Meyer, Thomas, „Fundamentalismus – Aufstand gegen die Moderne“, Hamburg 1989, S. 37/38
3 ebenda S. 38
4 siehe Martin Riesebrodt, Protestantischer Fundamentalismus in den USA. Die religiöse Rechte im Zeitalter der elektronischen Medien, EZW-Information Nr. 102, EZW, Stuttgart VIII/1987 (http://www.ezw-berlin.de/downloads/Information_102.pdf ), S. 2f.
5 siehe dazu Hempelmann, Reinhard in Hempelmann, R. et al. (Hrsg.), „Panorama der Neuen Religiosität“, Gütersloh 2005, S. 432f
6 siehe dazu Streib, Heinz, „Milieus und Organisationen christlich-fundamentalistischer Prägung“ in „Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen“, Deutscher Bundestag 1998, Hoheneck-Verlag Hamm, S. 107 ff
7 siehe Hempelmann, R., „Sind Evangelikalismus und Fundamentalismus identisch?“, in Materialdienst 1/06 der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen, EZW Berlin, S. 7f.
8 Hempelmann in „Panorama …“, a.a.O., S. 422; dort beschreibt der Autor auf den Seiten 411 – 509 sehr detailliert das genannte Gesamtspektrum
9 siehe Hempelmann, R., „Sind Evangelikalismus und Fundamentalismus identisch?“ a.a.O. S. 14
10 siehe „Erziehungsverständnisse in evangelikalen Erziehungsratgebern und –kursen“, Zürich, 5. April 2013 / Version 1.1, S.22. Diese wegweisende Studie der „Fachstelle infoSekta“ in Zusammenarbeit mit der „Stiftung Kinderschutz Schweiz“ ist zu finden unter: http://infosekta.ch/infos-zu-gruppen-und-themen/evangelikale-erziehung/fachstelle-infosekta-hrsg-2013-erziehungsverstandnisse-in-evangelikalen-erziehungsratgebern-und-kursen/
11 Roloff, Jürgen, “Jesus“, München, 4. Aufl. 2007,S. 73)
12 siehe Roloff a.a.O., S. 78
13 [Wortlaut von Spr.22, 6 lt. Einheitsübersetzung: „Erzieh den Knaben für seinen Lebensweg, dann weicht er auch im Alter nicht davon ab.“]
14 OUR CHILD TRAINING MANUAL 140601.1946 , S. 10, 1997 Yehudah ,
Child Training II – Introduction ( http://question12tribes.com/wp-content/uploads/2014/07/OUR-CHILD-TRAINING-MANUAL.pdf ) ; Hervorhebungen im Original): „The control phase is the establishment of the parents’ rights of rulership over the will of their children. When parents can control their children, they have laid the necessary foundation for obedience and teaching them the commandments. Then their children will be able to become sons and daughters of the commandment (Jn 14:21,23,24).“ […] „Pr 22:6 is absolute if parents are obedient from the heart to their Father in heaven. The parents must accept the commandments in scripture as absolute truth and infinitely superior to any human method or system of child training or thinking. There can be no compromise by an attempt to modify the word of God found in the scriptures, to make it compatible with any human philosophies, psychology, sociology, religious views, or public opinion. God’s word is to be accepted absolutely without human adulterations. The word is living and powerful and is relevant today more than any other period of human history.“.
15 www.zwoelf-staemme.de, „Wenn die Sonne nicht mehr scheint“, o. J., S. 5/6 (Hervorhebung im Original)
16 http://twelvetribes.org/de/articles/chavivahs-zeugnis
17 Entscheidung kann bei der BPjM angefordert werden (Personendaten sind entfernt)
18 siehe S. 3 der Entscheidung; Die „Argumente“ in eckigen Klammern stehen so in der Entscheidung
19 Entscheidung kann bei der BPjM angefordert werden (Personendaten sind entfernt);
20 siehe S.2 der Entscheidung
21 siehe S. 4 der Entscheidung
22 alle Zitate S. 4 der Entscheidung
23 BVerfG, Beschluß v. 29.7.1968 – 1 BvL 20/63, 31/66, 5/67; FamRZ 1968, S. 578
24 siehe Homepage von UNICEF zu Kernpunkten der Konvention: http://www.unicef.de/ueber-uns/unicef-und-kinderrechte
25a http://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/studie-freikirchler-schlagen-ihre-kinder-83375/
25b http://www.pro-medienmagazin.de/nachrichten/detailansicht/aktuell/freikirchen-kritisieren-gewalt-studie-80202/
26 siehe „Gemeindegründung“ Nr. 110, 2/12, S.3 und 20-27, als pdf-download zu finden unter: http://kfg.org/zeitschrift/archiv/jahr-2012/
27 www.ekd.de/051113_huber_ucc_uek.htm
29 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2014/11/rk20141119_1bvr117814.html
30 siehe Pressemitteilung des BVerfG, S.3
31 Fassung aufgrund des Gesetzes zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls vom 04.07.2008 (BGBl. I , S. 1188) m. W. v. 12.07.2008
32 in „frühe Kindheit“ 2/01, veröffentlicht von der „Deutschen Liga für das Kind“ http://www.liga-kind.de/fruehe/201_peschel1.php
33 http://www.polizei-beratung.de/themen-und-tipps/gewalt/kindesmisshandlung/fakten.html
34 AVBayKiBiG §4 (1): Alle Kinder sollen zentrale Elemente der christlich-abendländischen Kultur erfahren und lernen, sinn- und werteorientiert und in Achtung vor religiöser Überzeugung zu leben sowie eine eigene von Nächstenliebe getragene religiöse oder weltanschauliche Identität zu entwickeln.
35 http://www.pedocs.de/volltexte/2009/1736/pdf/2005_3_klosinski_wann_ist_religioese_W_D_A.pdf
36 http://www.zeit.de/reden/die_historische_rede/friedenspreis_lindgren