Sekten und Psychogruppen

So genannte Sekten und Psychogruppen können Gefahren für den Einzelnen, für die zwischenmenschlichen Beziehungen - insbesondere in der Familie und für die Gesellschaft insgesamt bergen.
Die bayerischen Jugendbehörden werden mit der Problematik seit vielen Jahren immer wieder konfrontiert - meist in Einzelfällen
.

Das Konflikt- und Gefährdungspotential von "Sekten und Psychogruppen" aus Sicht des Bayerischen Landesjugendamts

Die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch konfliktträchtige Gemeinschaften ist auch heute nicht gebannt. Zwar werden Jugendliche, die in den 1960er- und 70er-Jahren u. a. wegen ihrer besonderen Beeinflussbarkeit als besonders gefährdete Zielgruppe der damals neu ins Rampenlicht getretenen, entsprechend "Neue Jugendreligionen" genannten Organisationen galten, heute nicht mehr besonders beworben. Jugendliche sind einmal wegen ihrer fehlenden Geldmittel und mangelnden Einflussmöglichkeiten für die problematischen Gruppierungen oder Firmen im direkten Zugriff weniger interessant als Erwachsene. Zum anderen konnte den Versuchen von problematischen Organisationen, Jugendliche oder Kinder direkt anzusprechen, durch öffentliche Aufklärung und die konsequente Anwendung gesetzlicher Möglichkeiten Einhalt geboten werden.

Indirekt jedoch sind Jugendliche oder Kinder - v. a. die Kinder der Anhänger - für viele Organisationen als Zukunftspotenzial von größter Bedeutung. Gerade die in einer "Sekte" aufwachsenden Minderjährigen sind besonders wehrlos gegen Indoktrination und Psychomanipulation, da bei ihnen die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit eingeschränkt wird und alternative Lebenserfahrungen als Vergleichsmaßstab (noch) fehlen.
In der Jugendhilfepraxis werden die Sozialisationsbedingungen von "Sekten"-Kindern meist erst deutlich, wenn ein Elternteil die "Sekte" verlässt bzw. einen Beitritt nicht mit vollzieht und um das Sorgerecht für das Kind kämpft, um es dem "Sekten"-Einfluss zu entziehen.

Altersunabhängig kann eine "Sekten"-Abhängigkeit entstehen. "Die von außen wahrgenommenen Verhaltens- und Denkweisen, die als 'psychische Abhängigkeit' von einer extremen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft beschrieben werden, lassen sich fachlich verstehen als Folgen einer ungewöhnlich starken Bindung des Einzelnen an eine Gemeinschaft, die durch ihre exklusive Selbstdefinition als Sinn- und Werteinstanz und durch die Konkretisierung dieses Selbstverständnisses in hierarchischen Machtstrukturen ein hohes Maß an Sozialkontrolle ausübt, ein hohes Maß an Gegnerschaft gegenüber der Umwelt erzeugt und hohe Investitionen an Zeit, Geld und Dienstleistungen für die Gruppe und ihre Führung von den Mitgliedern fordert."1

Beim Einzelnen kann durch die Abhängigkeit eine Einengung der Persönlichkeit und Lebensgestaltung erfolgen, die zu einem Rückschritt der psychischen Entwicklung, sogar zum Verlust eines realistischen Urteils- und Kritikvermögens führen kann. Die bisher ausgewogene gefühlsmäßige Grundstimmung kann unvermittelt in eine euphorisierte oder andererseits von quälenden Angst-, Schuld- und Schamgefühlen dominierte umschlagen. Es kann eine auffällige Fixiertheit auf spirituelle Spitzenerlebnisse entstehen, deren Erleben zur Legitimation der "neuen" Lebensführung und Weltsicht gebraucht oder missbraucht wird. Im lebenspraktischen Alltag können diese Persönlichkeitsveränderungen im Verein mit den "Sekten"-Strukturen zu schwer wiegenden Konsequenzen führen wie z. B. die Zerstörung der Bindung an Familie und bisherigen Freundeskreis.

Eine Hauptgefahr bei problematischen "Sekten", "Psychogruppen" und ähnlichen (Einzel-) Anbietern besteht darin, dass Abhängigkeitsgefühle und (unbewusste) Abhängigkeitsbedürfnisse der Mitglieder für die Ziele der entsprechenden Organisationen oder Gruppierungen zu Anwerbe- und Ausbeutungszwecken missbraucht werden. So können sich weit reichende materielle Folgen ergeben wie Aufgabe der beruflichen und finanziellen Eigenständigkeit, Verlust existenzbegründender Eigentumswerte, Vernachlässigung von Sozialabsicherung und Gesundheitsvorsorge bis hin zum u. U. lebensgefährlichen Glauben an dubiose Heilungs- und Erlösungsversprechen.

Um die Selbstbestimmung der Menschen zu umgehen, werden "Psycho-Techniken" angewandt, die als z. T. hochwirksame Überzeugungstechniken und Strategien der Bewusstseinskontrolle das Selbstbewusstsein, die Fähigkeit zur realitätsnahen Wahrnehmung und Kritikfähigkeit sowie die Umsetzung des eigenen Willens weitgehend außer Kraft setzen können.

Das vom "Sektenbereich" her bekannte Konflikt- und Gefährdungspotenzial kommt in den letzten Jahren in verwandter Form zunehmend auch bei verschiedenen organisierten "Psychogruppen", esoterischen und pseudo-therapeutischen Anbietern, Personal- und Managemententwicklern oder strukturvertriebsartigen Firmen zur Geltung, insbesondere durch die Anwendung fragwürdiger oder gefährlicher Trainings, Psychotechniken oder anderer Behandlungen. Derartige Eingriffe in die menschliche Psyche, die per se ungeeignet oder ungekonnt oder unter fehlender Anleitung zur Anwendung kommen, können folgenreiche seelische und auch körperliche Schäden nach sich ziehen.

Begriffsverständnis

Bei den "so genannten Sekten und Psychogruppen" handelt es sich um einen Bereich, zu dem es keinen allgemein gültigen und allseits akzeptierten Oberbegriff gibt. Dies ergab auch die Arbeit der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" des Deutschen Bundestags. Diese Enquete-Kommission behandelte die Gesamtthematik von 1996 - 1998 in der bisher für den deutschsprachigen Raum umfassendsten Weise. Da sich die Begriffe "Sekte" und "Psychogruppe" hier auf die problembezogenen Aspekte der behandelten Phänomene und Entwicklungen beschränken werden und in der Bevölkerung der Begriff "Sekte" den vergleichsweise größten Bekanntheitsgrad besitzt - durchaus mit einem auf Problemgehalte hinweisenden negativen Unterton -, wurden diese Begriffe hier gewählt.

In einer aktuellen höchstrichterlichen Entscheidung2 führt das Bundesverfassungsgericht dazu unter anderem aus, "... dass die Verwendung der Bezeichnung 'Sekte' in staatlichen Verlautbarungen ... verfassungsrechtlich keinen durchgreifenden Bedenken begegnet ...". Der Staat sei durch die Pflicht zur religiös-weltanschaulichen Neutralität nicht gehindert, in der öffentlichen Diskussion über religiöse oder weltanschauliche Gruppen für diese die Bezeichnungen zu verwenden, die dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechen und damit allgemein verständlich sind.

Ein besonderes Phänomen stellen die so genannten "Psychogruppen" oder "Psychokulte" dar, die unter anderem durch eine nicht (vorrangig) religiös bestimmte Zielrichtung charakterisiert sind. Hier ist z. B. an die Scientology-Organisation zu denken, wenngleich die problematischen Aktivitäten dieser Organisation weit über die psychische Beeinflussung ihrer Mitglieder hinausgehen und in Deutschland sogar zur Beobachtung durch den Verfassungsschutz führen.

Neben den beiden Sammelbegriffen "Sekte" und "Psychogruppe" sind in der öffentlichen Berichterstattung bzw. Fachdiskussion der letzten Jahre noch weitere Bezeichnungen für bestimmte Erscheinungen des Gesamtthemenbereichs geprägt worden: Fundamentalismus, destruktive Kulte, Psychokulte, Neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen, Gurubewegungen, Politsekten, Lebensbewältigungshilfe-Markt, Esoterik, New Age, Okkultismus/Spiritismus/Satanismus oder (Neue) Jugendreligionen.

Entwicklung in Bayern

Die Entwicklung in Bayern ist derjenigen im gesamten deutschsprachigen Raum vergleichbar.

In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Formen und Organisationen neuer und alternativer Religiosität, vor allem aus den USA kommend bekannt, was zunächst als relativ unproblematische Nebenerscheinung der damaligen Jugendbewegung eingeschätzt wurde. Es handelte sich um die später unter dem Namen "Neue Jugendreligionen" negativ in die Schlagzeilen geratenen Organisationen wie z.B. "Vereinigungskirche"/Moon, "Hare-Krishna-Bewegung", "Transzendentale Meditation/TM", "Bhagwan-/Osho-Bewegung" oder "Kinder Gottes", die als besonders problematische Gruppierungen einen herausragenden Bekanntheitsgrad erlangten. Mit Ausnahme der bereits damals als besonders konfliktträchtig eingestuften Scientology-Organisation sind diese Gruppierungen heute in Bayern nicht mehr so brisant.

Insgesamt geht der Trend weg von den großen Organisationen hin zu eher kleinen Gruppen. So gibt es heute neben den bekannten Gruppierungen eine Vielzahl eher unbekannter, zum Teil sehr kleiner oder gerade neu entstehender Bewegungen, Gemeinschaften und Anbieter. Vor allem problematische Gemeinschaften mit christlichem Hintergrund, Gruppierungen des "Psychomarkts" und eine Vielzahl von Gruppierungen und Anbietern der "Esoterik- und Lebensbewältigungshilfeszene" mit den unterschiedlichsten religiösen, kulturellen und ideologischen Wurzeln nehmen den Platz in der entsprechenden Konfliktberatungsarbeit in Bayern ein.

Globaler Zusammenhang und weltweite Verbreitung

Der 11. September 2001 hat deutlich gemacht, dass religiös fanatisierte Extremisten keine Randerscheinung der aktuellen welthistorischen Entwicklung sind. Die weltweite Brisanz von Fundamentalismus und im Extremfall Terrorismus hat zu tun mit der gegenseitigen Durchdringung religiöser, ideologischer, wirtschaftlicher, kultureller und massen- wie individual-psychologischer Faktoren im Rahmen von Globalisierungsprozessen und Vormachtsstreben. Quer zu lokalen, nationalen und internationalen Konflikthintergründen bestehen mittlerweile weltweit Spannungen zwischen religiösen Traditionen bzw. Religiosität überhaupt und einer sich zunehmend durchsetzenden säkularen Gesellschaft.

Unabhängig vom jeweiligen Kulturraum - christlich, islamisch, buddhistisch, hinduistisch usw. - formieren sich gegen den weltweiten säkularen Trend der Moderne "fundamentalistische" Gegenbewegungen und andererseits (Neu-)Religionen, die sich aus Elementen verschiedener Religionen zusammensetzen. In den hoch industrialisierten Gesellschaften kommt es überdies zu "postmodernen" und "postsäkularen" Erscheinungen religiöser Be-Sinnung und der individuellen Sinnsuche mit deutlicher "Ausstiegs"-Tendenz (Weltflucht, Innerlichkeit, "neue" Spiritualität, Esoterik usw.). "Wiederverzauberung" der Welt, Faszinosum des Irrationalen und Abgründigen bis hinein in die Filmproduktion und Kinderbuchliteratur haben Konjunktur. Die Unterscheidung zwischen organisierten Gruppierungen und eher individuell und diffus sich formierenden Bewegungen erscheint hier zweitrangig. Von den organisierten religiösen und ideologischen Gruppierungen mit zum Teil großem gesellschaftlichem Konfliktpotenzial bis hin zu einer nach außen praktisch nicht in Erscheinung tretenden subtilen Destruktivität (vor allem für die Anhänger selbst) bei bestimmten Gruppierungen und Bewegungen erstreckt sich ein breites Spektrum mehr oder weniger politisch relevanter Problemfelder.

Für den weltweiten Zusammenhang typische Entwicklungen:

  • Eine problematische sibirische "Sekte" ist wie viele andere ausführlichst auf deutschen Internetseiten vertreten, um den Kontakt zu den deutschsprachigen Anhängern zu halten bzw. Werbung zu betreiben.
  • In der kommunistischen Volksrepublik China ist "Falun Gong" eine Massenbewegung, deren Führer im US-amerikanischen Exil fungiert, mit Gruppenbildungen weltweit, auch in Bayern.
  • Die verschiedenen Weltreligionen verbreiten sich vor allem durch Migration, wobei sich gerade auch Abspaltungen der traditionell gewachsenen Hauptströmungen im Ausland engagieren, weil sie in den Herkunftsländern nicht anerkannt oder gar verboten sind. So wurden verschiedene islamistische Gemeinschaften, die von der laizistischen türkischen Regierung verboten worden waren, anschließend im Ausland aktiv. Nach dem 11. September werden diese Gemeinschaften jetzt auch in Deutschland intensiver überwacht, einzelne auch bereits verboten.

Wie diese Beispiele zeigen, tritt das Phänomen "Sekten" weltweit und anscheinend unabhängig vom jeweiligen religiösen und kulturellen Umfeld oder auch politischen System auf.

Anfang der 90er-Jahre war nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa befürchtet worden, dass in den neuen Bundesländern wie auch in den anderen ehemaligen Ostblockstaaten nach einer jahrzehntelang anti-religiös geprägten Politik ein ideologisches und religiöses Vakuum in der Gesellschaft entstehen könnte und die Bevölkerung besonders anfällig für die Botschaften und Lebensmodelle von "Sekten und Psychogruppen" aus der westlichen Welt sei. Letzteres bestätigte sich zwar nicht, aber die Entwicklung in diesen Ländern hat mittlerweile wohl ebenfalls "Weltniveau" erreicht.

Merkmale

Die Feststellung der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags (in der Presseerklärung zu ihrem Endbericht), "zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellen die Neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen keine Gefahr für Staat und Gesellschaft oder tragende gesellschaftliche Bereiche dar", ist aufgrund der aufgezeigten weltweiten Entwicklungen fraglich. Es reicht nicht aus, "den Einzelnen mit den nötigen Mitteln auszustatten, sich gegen Übervorteilungen und Schädigungen zur Wehr zu setzen".
Um aber zumindest Letzteres zu erreichen, ist ein frühzeitiges Erkennen der Anzeichen für entsprechend problematische Erscheinungen wichtig; dies um so mehr, als die Vereinnahmung durch problematische Sekten und Psychokulturen sehr schnell wirksam werden kann.

Im Hinblick auf konfliktträchtige Strukturen und Kontrollmechanismen, die das Leben in bzw. mit einer entsprechenden Gruppierung bestimmen, werden hier exemplarisch für den Bereich der Kindererziehung und Sozialisation einige symptomatische Merkmale als Frage formuliert, die auf gefährliche bzw. gefährdende Bewegungen oder Gruppierungen hinweisen können:

  • Hat eine von der "so genannten Sekte oder Psychogruppe" verfügte Fremdbetreuung Vorrang vor der elterlichen Erziehung? Wird den Eltern die Entscheidungsgewalt mehr oder weniger entzogen?
  • Werden die Kinder und Jugendlichen durch die sektengesteuerte Erziehung systematisch sozial isoliert mit der Konsequenz, dass sie in eine Außenseiterrolle gedrängt werden?
  • Werden nicht altersgerechte Methoden oder Psychotechniken angewandt (z. B. harte Meditationstechniken, Auditing)?
  • Werden individuelle, altersangemessene Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen unterdrückt (z. B. Aggressionen, Eigeninitiative)? Zählen bereits die Kinder nur als womöglich besonders hoffnungsvolle Funktionsträger der "so genannten Sekte oder Psychogruppe" und nicht als individuelle Persönlichkeit?
  • Werden bereits die Kinder und Jugendlichen emotional, ideell und materiell ausgebeutet (Überforderung, beispielsweise durch Spenden sammeln oder andere Arbeit, sexuelle Ausbeutung, Übertragung besonderer Verantwortung, "Lebensübergabe" oder andere Formen der Selbstaufopferung) oder werden sie systematisch vernachlässigt (da sie beispielsweise der "spirituellen Entwicklung" der Erwachsenen im Wege sind)?
  • Wird in der Erziehung das Einflößen von Angst oder Schuldgefühlen durchgehend als Erziehungsmittel eingesetzt (Verweise auf die Karma-Schuld, Bedrohung durch Dämonen oder teuflische Mächte, Endgericht, Verdammnis)?
  • Werden bereits an Kindern exorzistische Handlungen vorgenommen ("Befreiungsdienste", Bußübungen, rituelle Übungen zur "Reinigung")?
  • Herrscht eine extreme Strenge in der Erziehung durch Sanktionen wie (körperliche) Züchtigung, Unterwerfung, Liebesentzug und Einschränkung persönlicher Freiheiten, Strafarbeit (Schulungen, Trainings, Zwangsmeditation)?
  • Werden bereits Kindern rigide, vorgefertigte Denkstrukturen (z. B. Feindbilder) beigebracht, gegen die sie sich nicht wehren können, ohne dafür bestraft zu werden? Wird eine derartige Indoktrination durch eine sekteneigene Sprache zusätzlich unterstützt?
  • Herrscht bis in die Familie und Erziehung hinein eine totalitäre Führungsstruktur, die demokratische Rechte bereits im Ansatz infrage stellt oder auf deren Abschaffung hinarbeitet (Befehlsgehorsam, Führerprinzip, Intoleranz, Fanatismus, keine freie Meinungsbildung; Verbot, sich am demokratischen Leben zu beteiligen)?
  • Wird bereits den Kindern ein völlig irreales bzw. wahnhaftes Wirklichkeitsverständnis vermittelt (z. B. wirre Endzeitvorstellungen, "UFO-Sekten", panik- oder verfolgungswahnartige Realitätswahrnehmung infolge angeblicher Offenbarungen oder Visionen)?
  • Wird die psychosexuelle Entwicklung durch sexualfeindliche, asexuelle oder umgekehrt durch besonders freizügige oder perverse Haltungen und Praktiken gestört oder verhindert?
  • Sind gesundheitliche Vorsorge und medizinische Versorgung eingeschränkt (Ernährungsvorschriften, Arzt- und Medikamenten-Verbot usw., beispielsweise aufgrund "Sekten"-spezifischer Bedeutung von Gesundheit und Krankheit; Hinweise: Glaubensheilung, Exorzismus)?
  • Widerspricht die Rolle der Frau in der "Sekte" (als Leitbild insbesondere für die Mädchen) dem heute allgemeinen anerkannten Status von Frauen in krasser Weise?
  • Welchen Stellenwert haben Schulbildung und berufliche Perspektive (absoluter Vorrang von Missionstätigkeit und sektenspezifischer religiöser oder geistiger Entwicklung; Schulpflichtverletzung)?

Psychische Abhängigkeit / "Passung"

Viele Menschen glauben, nur besonders labile oder unreife Personen seien für "Sekten" anfällig. Dass auch völlig unauffällige Menschen in ihren Bann geraten, kann mit unterschiedlichen persönlichen Gründen zu tun haben. Diese beruhen auf mehr oder weniger unbewussten Bedürfnissen, Problemen oder Einstellungen, deren Entstehung bis in die Kindheit zurückreichen kann. Die äußerlich kaum erkennbaren, für "Sekten" anfällig machenden Motive beim Einzelnen sind dabei vor allem die Suche nach Einbindung und Zugehörigkeit, die Suche nach Halt und Klarheit, Wünsche nach persönlicher Aufwertung, Selbsterweiterung oder Einzigartigkeit sowie die Suche nach Neuem. In akuten Krisensituationen können diese persönlichen Gründe verstärkt zur Geltung kommen oder überhaupt erstmals in Erscheinung treten.

Wissenschaftliche Untersuchungen in den letzten Jahren haben ergeben, dass es sich im Falle eines Beitritts oder einer Mitgliedschaft bei einer so genannten "Sekte oder Psychogruppe" in der Regel um eine "Passung" handelt. Das heißt, die genannten Bedürfnisse, Probleme und Ängste dieser Menschen "passen" (vielleicht auch nur vermeintlich) mit dem Angebot einer bestimmten Gemeinschaft zusammen. Sie glauben, dass sie dort ihren Meister oder Lehrer gefunden haben, oder dass sie dort eine Art wirkliche Familie erleben, oder dass dort alle ihre Fragen und Hoffnungen beantwortet und erfüllt werden. In vielen Fällen kommt es dabei sogar zu einem für die Beteiligten befriedigenden Zusammenspiel, ob das nun von Außenstehenden als vernünftig angesehen wird oder nicht.
Eine "Passung" kommt darin zum Ausdruck, "dass ein enger Zusammenhang zwischen der Lebensorientierung bzw. der Persönlichkeit von Individuen sowie dem Angebots- und Anforderungsprofil von Gemeinschaften besteht, denen sie sich zuwenden. Ebenso steht fest, dass innerpsychische bzw. soziale Labilität einen wichtigen Faktor bei allen biografischen Umorientierungen bildet. Von daher erscheinen die Interaktionen zwischen Individuum und Gemeinschaft als Teile eines Such- und Anpassungsverhaltens, das durch psychische Manipulation der Gruppe weder erzeugt noch ersetzt, wohl aber gelenkt werden kann."3

Prävention

Wie kann dem späteren Beitritt zu einer problematischen Gemeinschaft vorgebeugt werden? Wie können Kinder vor dem Einfluss fragwürdiger (pädagogischer, therapeutischer oder religiöser) Scharlatane bewahrt werden?
Einerseits sollten Kinder darauf vorbereitet werden, dass sie im Leben den unterschiedlichsten religiösen, weltanschaulichen, ideologischen, therapeutischen und ähnlichen Angeboten begegnen werden. Der (spätere) Umgang damit wird von den bis dahin erhaltenen Informationen und den diesbezüglichen Erfahrungen abhängen - davon, ob das Kind "Für und Wider" unterscheiden gelernt hat, ob eine Urteilssicherheit hinsichtlich vager Behauptungen und schön klingender Versprechungen vorhanden ist.
Andererseits handelt es sich bei "Bekehrungen" und Bindungen an ungewöhnliche Gruppen und Lehren um zutiefst gefühlsmäßige Vorgänge. Ein vielleicht vorhandenes theoretisches Wissen über mögliche Gefahrenmomente bleibt im entscheidenden Moment unter Umständen unwirksam.

Deshalb ist der beste Schutz gegen zweifelhafte "Sekten"-Angebote die Entwicklung einer gefestigten Persönlichkeit beim Kind und Jugendlichen. Dies wird ermöglicht durch eine familiäre Umgebung, in der das Kind verlässliche Bezugspersonen erlebt, die ihm Selbstvertrauen und Vertrauen in seine realen Möglichkeiten vermitteln, um sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und die eigene Zukunft mitzugestalten. Wer gelernt hat, selbstbestimmt zu leben und die Verantwortung dafür zu übernehmen, wird auf alle Versuche, vereinnahmt zu werden und das Selbstbestimmungsrecht entzogen zu bekommen, sensibel reagieren. Das Gespräch und die lebensnahe Auseinandersetzung mit dem Kind über Weltbilder, religiöse Vorstellungen, gesellschaftliche Werte und Normen sowie andere, das Leben mit Sinn erfüllende Orientierungen sollten dazu verhelfen, dass das Kind bzw. der Jugendliche klare eigene Perspektiven für sich festlegen kann und eine positive Einstellung zu sich und seinem sozialen Umfeld gewinnt. Selbstsicherheit und Ich-Stärke können so reifen und verhindern dann, dass anderweitig Halt gesucht werden muss oder ein Sich-selbst-Aufgeben zugunsten einer dubiosen Erlösergestalt droht.

Es gibt keine Patentrezepte, wie man sich vor den psycho-manipulativen Techniken verschiedener Gruppierungen schützen kann, oder wie man Angehörige aus problematischen "Sekten und Psychogruppen" wieder "herausholen" kann. Zur Orientierung über fragliche "Angebote" bzw. zum Schutz vor negativen Erfahrungen ist es deshalb wichtig, einschlägige negative Merkmale zu erkennen und zu wissen, wo fachliche Hilfe gesucht werden kann. Hier seien besonders auch die kirchlichen Beauftragten für den Bereich der "Sekten und Psychogruppen" genannt (siehe Auflistung im folgenden Kasten). Bei diesen Fachstellen können nähere Informationen und Erfahrungswerte als Einschätzungshilfen zur Vorbeugung und für persönliche Problemstellungen eingeholt werden. Wenn es um Belange von Kindern, Jugendlichen und Familien geht, ist das Landesjugendamt Ansprechpartner für die Fachkräfte der Jugendhilfe vor Ort (z. B. in Jugendämtern, Erziehungsberatungsstellen).

Öffentliches Handeln, Information und Beratung

Um hinsichtlich der Gesamtproblematik Konsequenzen für Politik, staatliches Handeln, Rechtsprechung und Kultur zu ziehen, bilden die in Verfassung, Grundgesetz und demokratischer Grundordnung festgelegten Menschenrechte und demokratischen Grundsätze die angemessene Orientierungsgrundlage.

Zur öffentlichen Auseinandersetzung mit "Sekten und problematischen Psychogruppen" stellt das Bundesverfassungsgericht4 fest: "Das Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4 I und II GG bietet keinen Schutz dagegen, dass sich der Staat und seine Organe mit den Trägern dieses Grundrechts sowie ihren Zielen und Aktivitäten öffentlich - auch kritisch - auseinander setzen. Diese Auseinandersetzung hat allerdings das Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates zu wahren und muss daher mit Zurückhaltung geschehen. Diffamierende, diskriminierende oder verfälschende Darstellungen einer religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft sind dem Staat untersagt." In der Regel wird deshalb von staatlichen und kirchlichen Stellen, aber auch von privatrechtlich organisierten Vereinen nur aufgrund konkret belegbarer Tatsachen zu einzelnen Erscheinungen und Gruppierungen kritisch Stellung genommen.

Eine - von öffentlichen Stellen häufig erwartete - jeweils aktuelle, umfassende und allgemein anerkannte Auflistung eindeutig seriöser bzw. gefährdender Angebote kann es angesichts der Vielzahl der Anbieter, der Unübersichtlichkeit der Szene und der vielschichtigen Erscheinungen nicht geben. Öffentliche Aufklärung muss sich im Sinne wirkungsvoller Prävention generell eher dafür einsetzen, dass gefährdende Strukturmerkmale frühzeitig erkannt werden. Die Anwendung eines angemessenen Bewertungsinstrumentariums hinsichtlich gefährdender oder konfliktträchtiger Strukturmerkmale durch den einzelnen Bürger und die kritische Öffentlichkeit sind hilfreicher als ein möglichst umfassendes Wissen über sämtliche infrage kommenden Anbieter, das angesichts ihrer Vielzahl kaum zu erreichen ist.

Gefordert sind neben angemessenen Maßnahmen der Verfassungsschutz- und Strafverfolgungsbehörden präventive Bemühungen in allen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem durch Informationen, Aufklärung und kritische Auseinandersetzung in den Medien und in der Bildung. Da es sich insgesamt um einen Problembereich handelt, der durch das Aufeinandertreffen von in gewisser Weise konträren Freiheitsrechten (v. a. Religionsfreiheit vs. Menschenwürde, freie Entfaltung der Persönlichkeit und Recht auf Unversehrtheit) mit charakterisiert ist, haben die politische, öffentliche und persönliche Auseinandersetzung sowie Meinungsbildung gegenüber staatlichem Handeln Vorrang.

Wenn jedoch manifeste Gefährdungs- und Konfliktlagen vorliegen und Erziehungs-, Lebens-, psychologische Beratung, Therapien und andere Hilfsangebote zur Abwendung von (weiteren) Beeinträchtigungen bei Gefährdeten, (Mit-)Betroffenen oder Geschädigten nötig werden, können sich die Bürger in Bayern an verschiedene staatliche Stellen wenden. Im Bereich der Jugendhilfe berät das Landesjugendamt die örtlich zuständigen Jugendbehörden und Jugendhilfeeinrichtungen in fachlicher Hinsicht.
Spätestens dann, wenn bei Minderjährigen gegen Grundrechte und Gesetze oder allgemein anerkannte Grundsätze der Erziehung verstoßen wird, haben Jugendämter in Wahrnehmung des staatlichen Wächteramts zu handeln. Die Zugehörigkeit von Eltern zu einer Sekte oder Psychogruppe allein stellt dafür jedoch noch keinen Anlass dar. Eine solche Mitgliedschaft ist allenfalls Indiz dafür, dass ein "extremer Erziehungsstil" oder andere spezifische Gefährdungsmomente vorliegen könnten. Ob eine entsprechende Kindeswohlgefährdung tatsächlich vorliegt, ist jeweils im Einzelfall zu prüfen.

Insgesamt müssen das Landesjugendamt wie die örtlich zuständigen Jugendämter eine klare Grenzziehung gegenüber problematischen Institutionen, Organisationen und Personen vornehmen, wenn Indizien für mögliche Rechtsverletzungen vorliegen. So wird im Einzelfall geprüft, ob die Anerkennung einer Pflege- bzw. Adoptionsfamilie, eine Betriebserlaubnis, die Anerkennung eines freien Trägers oder die Bezuschussung einer Einrichtung verantwortet werden kann. Zur Orientierung für die Grenzziehung und Prüfung hat sich die Gesamtbayerische Jugendamtsleitungstagung 1997 auf einen handlungsbezogenen Katalog von Strukturmerkmalen5 verständigt (siehe auch oben "Merkmale").

Von der Scientology-Organisation Betroffene jeden Alters können die beim Landesjugendamt angesiedelte telefonische Scientology-Krisenberatung (Tel.: 0180/1000042) direkt zur (auf Wunsch anonymen) Erst-Beratung und ggf. Weitervermittlung an andere Fachstellen nutzen. Dieses niedrigschwellige Angebot wird seit 1998 von zwei psychologischen bzw. sozialpädagogischen Fachkräften beim Landesjugendamt vorgehalten. Gefragt ist vor allem psychologische, erzieherische und juristische Beratung hinsichtlich persönlicher Konfliktlagen – meist im Kontext mit betroffenen Familienangehörigen. Die Vielschichtigkeit des Beratungsbedarfs erfordert einen entsprechend breit gefächerten Beratungsansatz. Durch die beim Landesjugendamt gleichzeitig bearbeitete Gesamtproblematik der Sekten und Psychogruppen kommt es in der Praxis zu vielfältigen Aufgabenüberschneidungen, die zudem dank der vorhandenen fachlichen Ressourcen (zum Aufgabenfeld der Jugendhilfe insgesamt) sinnvoll angegangen werden können.

Besorgten Bürgern, die in Zusammenhang mit Scientology Fragen oder Hinweise haben, stehen außerdem das vertrauliche Telefon des Landesamts für Verfassungsschutz (Tel.: 089/31201296) und spezielle Polizeidienststellen in München, Nürnberg und Augsburg zur Verfügung. Allgemeine Information (keine Beratung) zum Gesamtspektrum der Sekten und Psychogruppen in Bayern bietet das Staatsministerium für Unterricht und Kultus an.

Diese besonderen Scientology-bezogenen Beratungsangebote sind Teil des am 12.11.2002 vom Ministerrat noch einmal erweiterten bayerischen Maßnahmekatalogs gegen Scientology (SO)6 .

Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass zur selbstständigen Information im Internet zu einer Vielzahl von Gemeinschaften, Organisationen, Firmen und Einzelanbietern umfangreiche Selbstdarstellungen aber zunehmend auch kritische Dokumentationen und Einschätzungen von kirchlichen, wissenschaftlichen und staatlichen Fachstellen, ehemaligen Anhängern und Initiativen von Mitbetroffenen sowie weiterführende Hinweise auf spezielle Hilfsangebote und Publikationen zur vertieften Befassung in Schule, Ausbildung und Wissenschaft zu finden sind (siehe kleine Auswahl an Internetadressen bei Ansprechpartner in Bayern).

Helmar BIuhm

Anmerkungen:

1 Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen in der BRD - Endbericht der Enquete-Kommission "Sog. Sekten und Psychogruppen" (BT-Drucksache 13/10950); Hg.: Deutscher Bundestag (1998), Bt-Drs. S. 79.
2 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26.06.2002 - 1 BvR 670/91 (NJW 2002, Heft 36, S. 2626 ff.).
3 Endbericht der Enquete-Kommission a. a. O.
4 Beschluss des BVerfG a. a. O.
5 Ergebnisse der dritten gesamtbayerischen Jugendamtsleitungstagung, BLJA Mitteilungsblatt Nr. 3/97, S. 4.
6 vgl. hierzu Internetseite des Innenministeriums www.stmi.bayern.de/sicherheit/verfassungsschutz/extremismus/

Literatur:

  • "Konfliktträchtige Gruppierungen und ihre Auswirkungen auf die elterliche Sorge", Bayerisches Landesjugendamt, München 1997.
  • "Gefahren auf dem Psychomarkt - Handreichung zur Prävention an bayerischen Schulen Band 1", München 2002
  • Bayerisches Staatsministerium des Innern (Hg): Das System Scientology - Wie funktioniert Scientology?, München 5. Aufl./2004, als PDF-Datei im Internet.
  • Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen in der BRD - Endbericht der Enquete-Kommission "Sog. Sekten und Psychogruppen"; Hg.: Deutscher Bundestag 1998, Drucksache 13/10950 (vergriffen)
  • Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen in der BRD - Zwischenbericht der Enquete-Kommission "Sog. Sekten und Psychogruppen"; Hg.: Deutscher Bundestag 1997, Drucksache 13/8170 (vergriffen)
    (Die beiden BT-Drucksachen sind vergriffen, können aber als PDF-Datei unter www.bundestag.de eingesehen bzw. heruntergeladen werden).
  • Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg): Familienrechtliche Konflikte mit "Sekten und Psychokulten", o. J. (1998). Bezug über: Aktion Jugendschutz, Poststr. 15 - 23, 50676 Köln.
  • Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.): "Alles Sekte - oder was?" Berlin 2002; (als PDF-Dateien im Internet).
  • Eimuth, Kurt-Helmut: Sektenratgeber - Informationen und Ratschläge für Betroffene, Freiburg i. Br. 1997.
  • Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen, Hrsg.:Baer/ Gasper/ Müller/ Sinabell; Freiburg i. Br. 2005
  • Materialdienst, Hrsg.: Evangelische Zentrale für Weltanschauungsfragen, Berlin, Monatzeitschrift.
  • Hempelmann, R. u. a.: Panorama der neuen Religiosität - Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts; Gütersloh, vollständig überarbeitete Neuaufl. 2005

 ´aus: ZBFS - Bayerisches Landesjugendamt Mitteilungsblatt 5/2003