Handreichung für den Aufbau und die Verankerung institutioneller Partizipationsmöglichkeiten und -formen in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe
Abschlussbericht des Ad-hoc-Ausschusses „Partizipation in der stationären Jugendhilfe“. Beschluss des Landesjugendhilfe-ausschusses am 10.07.2012
Hintergrund und Ziel
Die vorliegende Handreichung ist eine Arbeitshilfe für Leitungs- und Fachkräfte von stationären Jugendhilfeeinrichtungen bei dem Auf- und Ausbau, der Implementierung und der Weiterentwicklung von Beteiligungsmöglichkeiten und -formen.
Damit entspricht der Ad-hoc-Ausschuss „Partizipation in der stationären Jugendhilfe“ bzw. der Bayerische Landesjugendhilfeausschuss dem Wunsch nach einer solchen Arbeitshilfe. Das Papier beschreibt eine Reihe von Erkenntnissen und Anregungen für die erfolgreiche Gestaltung von Beteiligung. Es kann allerdings nicht als eine konkrete Anleitung für diese Gestaltung verstanden werden, da die im Einzelfall bestmöglichen Lösungen „vor Ort“ entwickelt und entschieden werden müssen.
Jedes Kind und jeder Jugendliche hat das Recht, an der Gestaltung seiner Belange und des eigenen Lebensumfeldes beteiligt zu sein.
Beteiligung ist ein Prozess, der aus verschiedenen Aspekten, Ebenen und Phasen besteht. Die Teile dieses Prozesses gehören zueinander und können nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Der folgende Beteiligungskreis benennt wichtige Prozessteile und kann für Orientierung sorgen:
Die Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung haben in den letzten Jahren vieles dafür getan, dass die Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche ausgeweitet wurden. In vielen Einrichtungen sind institutionell verankerte Beteiligungsmöglichkeiten entwickelt worden und es existieren vielfältige Erfahrungen mit der Organisation von Beteiligungsprozessen.
Studien zeigen aber auch, dass die Beteiligungsmöglichkeiten noch nicht ausreichen. Der Aufbau einer persönlichen Beziehung zu den Fachkräften ist eine entscheidende Voraussetzung für gelingende Hilfeprozesse. Persönliche Beziehungen unterliegen aber auch der Gefahr, dass die darin bestehenden Machtstrukturen ausgenutzt werden, wie dies z. B. häufig im Fall von sexuellem Missbrauch geschieht. Insofern stellen sich u. a. folgende Fragen:
Gibt es in der Einrichtung eine Stelle, an die sich Kinder und Jugendliche wenden können, wenn sie einen Konflikt mit ihrer Vertrauensperson haben?
Trauen sich Kinder und Jugendliche Vorschläge zu machen, Kritik anzubringen?
Wie erfahren die Fach- und Leitungskräfte, wo es Unzufriedenheiten gibt?
Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe haben eine besondere Verantwortung, für die Einhaltung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in ihren Strukturen zu sorgen. Diese Verantwortung besteht sowohl hinsichtlich der Durchsetzung der individuellen Rechtsansprüche von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien als auch in Bezug auf die Gestaltung der Organisation, sodass sie die Mitwirkung, Mitgestaltung und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen fördert. Beteiligungsformen zu schaffen heißt jedoch nicht, dass Erwachsene aus ihrer Verantwortung entlassen werden.
Mit dem SGB VIII sind gute Ausgangsvoraussetzungen geschaffen, dass Kinder und Jugendliche an der individuellen Hilfeplanung mitwirken können (§ 36 SGB VIII). Die Erfahrungen mit der Umsetzung des § 36 SGB VIII zeigen, dass rechtliche Vorgaben wichtige Anstöße geben können und dazu beitragen, die Position von Kindern und Jugendlichen zu stärken.
Die Beteiligungsmöglichkeiten und -formen müssen allen Beteiligten einer Institution zur Verfügung stehen, unabhängig von der Einrichtungsgröße oder dem Alter der Kinder und Jugendlichen (so z. B. auch Jugendlichen im Einzelwohnen). Auch die Eltern gehören zu den Beteiligten.
1. Bedingungen für das Gelingen von institutionellen Beteiligungsformen
Im Folgenden werden eine Reihe von grundlegenden Prinzipien und Bedingungen für das Gelingen von Beteiligung beschrieben.
1.1 Transparenz – Information über Beteiligungsformen und Rechte
Eine entscheidende Voraussetzung für die Verwirklichung aller Beteiligungsformen ist Transparenz. Das heißt, alle Kinder, Jugendlichen und Mitarbeiter/-innen müssen über die Möglichkeiten, sich zu beteiligen, ausreichend informiert sein (z. B. auch Kinder, die noch nicht lesen können, Kinder mit Behinderungen). Dafür sollten unterschiedliche Wege genutzt werden. Auch schriftliche Informationen sind wichtig, denn sie schaffen Verbindlichkeit und erlauben allen Beteiligten, sich über die Möglichkeiten immer wieder zu informieren und zu vergewissern.
Studien zeigen, dass die Informationsaufnahme bei Menschen sehr unterschiedlich verläuft und vor allem in Krisensituationen anders vonstattengeht als in weniger belasteten Phasen des Lebens. Es ist eine wichtige Aufgabe der Fach- und Leitungskräfte, immer wieder mit den Kindern und Jugendlichen zu prüfen, ob sie ausreichend informiert sind bzw. wo es Nachholbedarf gibt.
Vor allem Kinder und Jugendliche brauchen nicht nur Informationen, wie sie sich einbringen können, sondern auch wie sich beschweren können, wenn sie den Eindruck haben, dass sie nicht angemessen behandelt werden. Dabei kommt es besonders darauf an, dass die Kinder und Jugendlichen Vertrauen in diese Verfahren entwickeln. Die Einrichtung kann dies auf mehreren Wegen erreichen. Zentral ist aber immer eine offene, vertrauensvolle und zugewandte Haltung der Fach- und Leitungskräfte.
Im besten Fall probieren Kinder und Jugendliche diese Verfahren aus, um zu testen, ob ihnen das im Ernstfall auch etwas bringt.
Gerade weil die Kinder und Jugendlichen und auch das Personal in der Einrichtung immer wieder wechseln, ist es notwendig sicherzustellen, dass neu in die Einrichtung kommende Kinder und Jugendliche alle Informationen bekommen. Dies gilt im Übrigen auch für neue Mitarbeiter/-innen. Die Einrichtung muss sich auch konzeptionell überlegen, wie sie neue Mitarbeiter/-innen im Rahmen der Einarbeitung in die Partizipationsstrukturen einführt.
1.2 Schulung und Qualifizierung
Alle Beteiligten sollten in die Lage versetzt werden, die vorhandenen Verfahren auch nutzen zu können. Dazu sind entsprechende Informationen, aber ggf. auch Schulungen notwendig. Gerade für Mitglieder von Heimräten ist eine Schulung sehr wichtig, damit sie die Besonderheiten und Vorteile des Heimrats auch nutzen können. Außerdem stellen sie für die Kinder und Jugendlichen auch eine Anerkennung und Würdigung ihrer Rolle dar.
1.3 Alle Themen sind beteiligungsfähig
Kinder und Jugendliche machen immer wieder die Erfahrung, dass ihnen Mitsprache und Mitwirkung nur bei ausgewählten Themen ermöglicht und zugetraut werden. Die Entscheidung, welche Themen das sind, wird häufig von den Erwachsenen getroffen. Es gibt jedoch keinen Grund, dass bei bestimmten Themen die Mitwirkung der Kinder und Jugendlichen grundsätzlich ausgeschlossen ist. Für die Fachkräfte stellt sich dabei vor allem die Aufgabe, wie sie Entscheidungsprozesse so organisieren können, dass eine angemessene Mitwirkung der Kinder und Jugendlichen möglich ist.
1.4 Von Beteiligung profitieren alle
Manche Fach- und Leitungskräfte befürchten, dass Kinder und Jugendliche (noch) gar nicht in der Lage sind oder das Interesse daran haben, sich zu beteiligen. Und wenn sie dann doch ernsthaft den Schritt hin zu Beteiligung wagen, entdecken sie oftmals ungeahnte Ressourcen und neue Seiten an den Kindern und Jugendlichen. Auch die Kinder und Jugendlichen entdecken sich zuweilen neu. Und da Beteiligung auf der Basis von Kooperation geschieht, entsteht eine neue Qualität des Gemeinschaftsgefühls in der Einrichtung, von dem alle profitieren.
1.5 Zeitliche Nähe
Kinder und Jugendliche müssen sicher sein, dass die Mitarbeiter/-innen ihre Anliegen ernst nehmen und sich damit auseinandersetzen. Das heißt nicht, dass innerhalb von kurzer Zeit auch fertige Lösungen entstehen müssen. Kinder und Jugendliche können sehr gut unterscheiden, welche Themen Zeit brauchen und wo schnelle Entscheidungen möglich sind. Voraussetzung ist, dass die Einrichtung sich mit ihnen darüber auseinandersetzt, ihnen Hintergründe erläutert und ergebnisoffen, aber zielgerichtet bei der Suche nach Lösungen ist.
1.6 Beteiligungsformen gemeinsam entwickeln
Beteiligungsformen in einer Einrichtung zu verankern, ist ein beständiger Prozess. Sie müssen immer wieder an Entwicklungen in der Einrichtung und veränderte Lebenssituationen der Kinder und Jugendlichen angepasst werden. Es kommt darauf an, die für die Einrichtung und die aktuell dort lebenden Kinder und Jugendlichen passenden Beteiligungsformen zu finden. Funktionierende Verfahren zeichnen sich daher in erster Linie nicht durch eine strenge Verfahrenskonformität aus. Sie zeichnen sich eher dadurch aus, dass allen die Möglichkeit der Beteiligung gegeben wird und Formen flexibel bleiben. Diese Flexibilität darf aber nicht zu einer Willkür führen. Beteiligung lebt von der Verbindlichkeit und der Möglichkeit, notwendige Anpassungen an komplexe Bedingungen vornehmen zu können.
Aus der Erkenntnis, dass Beteiligungsformen gemeinsam entwickelt werden sollten, folgt, dass nicht alles auf einmal geschehen kann. Entwicklungs- und Abstimmungsprozesse benötigen ihre Zeit. Sie müssen immer wieder in Rückkopplungsschlaufen überprüft werden. Manche Dinge funktionieren auf Anhieb, manche dagegen aber nicht und müssen angepasst, verändert oder gar verworfen werden. Dieser prozesshafte Ansatz kann die Beteiligten zuweilen anstrengen und sogar frustrieren. Deshalb muss er von den Fach- und Leitungskräften moderiert und unterstützt werden. Seine Ergebnisse werden aber in aller Regel besser sein als „von Oben“ vorgegebene Lösungen. Außerdem wird so in der Entwicklung von Beteiligung bereits Beteiligung hergestellt. Das fördert das Vertrauen aller in die gefundenen Lösungen.
1.7 Phasen von Beteiligung
Beteiligung verläuft nicht gleichmäßig. Es wechseln sich Phasen mit einem hohen Engagement mit Phasen ab, in denen es nicht so gut läuft. U. a. ist Beteiligung davon abhängig, wie viel Zeit die engagierten Kinder und Jugendlichen zur Verfügung haben, ob z. B. in der Schule Prüfungen anstehen, ob Mitglieder des Heimrats die Einrichtung verlassen oder auch von der Attraktivität der anstehenden Themen. Sich gemeinsam zu vergewissern, was man schon erreicht hat und „Highlights“ wie große Veranstaltungen oder neue Projekte können dann Motivationsschübe für alle Beteiligten sein. Vor allem die ruhigen Phasen verlangen, dass die Fach- und Leitungskräfte sie moderieren, sie aushalten, sie nicht als Beweise verwenden, nach denen Beteiligung eben doch nicht funktioniert, und dass sie gezielt für jene motivierenden Momente sorgen, die dann oft auch das Ende der problematischen Phasen einläuten.
1.8 Fehlerfreundlichkeit
Beteiligungsprozesse funktionieren dann, wenn Institutionen sich darauf einlassen und sie gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen entwickeln. Schaffen Institutionen Beteiligungsgelegenheiten, müssen sie zugleich auch damit rechnen, dass Kinder und Jugendliche sie auch wahrnehmen. Das bedeutet auch, dass man vorher nicht planen kann, was genau das Ergebnis eines Beteiligungsprozesses sein wird. Das wiederum erfordert eine gewisse Ergebnisoffenheit und, sich auf Neues einlassen zu können.
Diese Offenheit heißt aber nicht, dass man nun als Erwachsener nichts mehr zu sagen hätte. Es erfordert aber von den Fachkräften eine Vergewisserung der eigenen Argumente, um diese dann gegenüber den Kindern und Jugendlichen auch überzeugend vertreten zu können.
Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass manche Fachkräfte skeptisch gegenüber Heimräten und Beschwerdeverfahren sind. Dies ist insofern nachvollziehbar, da manche Verfahren auch dazu genutzt werden könnten, Mitarbeiter/-innen zu kontrollieren und ihnen Fehler nachzuweisen. So verstanden werden sie nicht beteiligungsförderlich sein. Sind sie dagegen Anlass, gemeinsame Lösungen zu suchen, unterstützen sie die Weiterentwicklung der gesamten Einrichtung. Unter anderem verändert sich in der Folge die Fehlerkultur einer Einrichtung. Fehler sind dann nicht mehr beschämender Ausdruck menschlicher Schwächen, die es unbedingt zu vermeiden gilt, sondern zwangsläufige Bestandteile des täglichen Miteinanders, bei denen es darauf ankommt, sie ohne Vorwürfe thematisieren zu können und aus ihnen zu lernen.
1.9 Beteiligung lebt durch die Mitarbeiter/-innen
In der Diskussion um Beteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe erfolgt an mancher Stelle eine Polarisierung „Haltung“ vs. „institutionalisierter Formen“. Studien haben gezeigt, dass erfolgreiche Beteiligung beide Dimensionen zur Voraussetzung hat. Es bedarf der entsprechenden Haltung der Fach- und Leitungskräfte und des daraus folgenden demokratisch geprägten Alltags in der Einrichtung, aber auch der institutionellen Absicherung der Beteiligungsmöglichkeiten und -formen. Klar ist, dass jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter mit ihrer/seiner Haltung Mitverantwortung für den Erfolg von Beteiligung trägt. Eine besondere Rolle spielen dabei Leitungskräfte. Nur wenn sie konsequent hinter den Bemühungen um Beteiligung stehen, wird sie auch gelingen.
1.10 Nutzung Web (2.0)
Beteiligung ist in erster Linie Kommunikation. Und die hat sich in den letzten Jahren verändert. Vor allem junge Menschen nutzen die Möglichkeiten des Internets, des sogenannten Web 2.0 und der sozialen Netzwerke. In der aktuellen Debatte wird häufig darauf verwiesen, dass die neuen Medien und das Web 2.0 prinzipiell neue Partizipationsmöglichkeiten bieten. Noch ist das Wissen über die Auswirkungen der neuen Medien erst in den Anfängen, aber die Erfahrungen zeigen, dass das Web 2.0 dazu beiträgt, bestimmte Zielgruppen besser zu erreichen und Selbstorganisationsprozesse zu erleichtern. Es wäre jedoch unangemessen, diese neuen Möglichkeiten per se mit einer Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten gleichzusetzen. Nichtsdestotrotz bieten sie aber bezüglich der Gestaltung von Beteiligungsprozessen große Möglichkeiten, die es zu nutzen gilt. Selbstverständlich müssen auch diese Kommunikationsprozesse von den Fach- und Leitungskräften begleitet und moderiert werden.
1.11 Betriebliche Mitbestimmung
Fachkräfte, die sich selbst nicht beteiligt und wertgeschätzt fühlen, werden kaum Kinder und Jugendliche zu Beteiligung anleiten können. Die Beteiligungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen korrespondieren mit denen der Fachkräfte. Insofern muss es Ziel der Einrichtung sein, dass ein umfassend beteiligungsfreundliches Klima in der Einrichtung besteht bzw. hergestellt wird, an dem alle teilhaben können. Formen der betrieblichen Mitbestimmung sind aus diesem Grund ebenso zu fördern wie die Beteiligung der jungen Menschen.
1.12 Kultur
In allen Organisationen wie der Schule und auch im Bereich der Hilfen zur Erziehung zeigt sich, dass Beteiligung dann selbstverständlicher Teil des Alltags wird, wenn sie ein akzeptierter Bestandteil der Institution ist. Im konkreten Miteinander von formalen Verfahren und der pädagogischen Ausgestaltung erweist sich, ob und wie Partizipation mit Leben gefüllt werden kann.
2. Formen institutionell verankerter Beteiligung in stationären Einrichtungen
Im zweiten Teil werden gängige und bewährte institutionalisierte Beteiligungsformen beschrieben. Die Bezeichnungen der Formen können sich von Einrichtung zu Einrichtung unterscheiden.
2.1 Gruppengespräch / Gruppenabend
Das Gruppengespräch/der Gruppenabend ist die regelmäßige Zusammenkunft der Kinder und Jugendlichen einer Gruppe. In diesem Treffen geht es vor allem darum auszuhandeln, wie das Zusammenleben in der Gruppe aussehen soll, was die Kinder und Jugendlichen bewegt, Konflikte zu bearbeiten, gemeinsam zu planen usw. Aber auch Fragen, die die gesamte Einrichtung betreffen, werden hier besprochen.
Gruppengespräche/Gruppenabende sind Standard in vielen Einrichtungen. Aber sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die Mitarbeiter/-innen erleben die Gruppengespräche häufig aus verschiedenen Gründen als wenig attraktiv. Um das zu verhindern, sollte/n:
- die Treffen v. a. nicht Ort für pädagogische Sanktionierungen sein,
- gemeinsam und ernsthaft nach Lösungen gesucht werden,
- geklärt sein, was in den Treffen passieren soll und kann, wie sie mitgestaltet werden können, wie gemeinsame Entscheidungen zustande kommen, welche Auswirkungen sie haben, wie Regeln auch verändert werden können,
- für eine angenehme Atmosphäre gesorgt sein (z. B. mit Essen und Trinken, einer gemeinsamen Aktivität, die alle gern tun usw.).
2.2 Heimrat
Der Heimrat ist ein demokratisch, in geheimer Wahl gewähltes Vertretungsgremium der Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung. Er kann seine Funktion nur erfüllen, wenn er an allen pädagogischen, organisatorischen, wirtschaftlichen und personellen Fragen, die die Kinder und Jugendlichen betreffen, beteiligt ist. Es sollte schriftlich (z. B. in einer Satzung/Geschäftsordnung) festgelegt sein, wie sich der Heimrat zusammensetzt, wie er gewählt wird, welche Rechte und Aufgaben er hat, welche Ressourcen er bekommt (eigener Etat, Fortbildungen), welche Mitarbeiter/-innen die Mitglieder des Heimrates beraten und unterstützen, wie der Informationsfluss zwischen Gruppen und Heimrat organisiert ist und wann und wie die Treffen ablaufen.
Viele Fachkräfte fragen sich, ob eine solche Formalisierung für stationäre Einrichtungen angemessen ist. Die Erfahrungen zeigen, dass Heimräte nur dann Wirkung entfalten, wenn sie auf klaren Regeln und Verfahren basieren. Sie stehen sonst in der Gefahr, von den Erwachsenen nicht ernst genommen zu werden und damit von den wirklich wichtigen Entscheidungen ferngehalten zu werden.
Die Erstellung einer Satzung/Geschäftsordnung für den Heimrat heißt aber nicht, dass dessen Regelungen starr und unveränderbar sein sollen. Im Gegenteil, sie müssen flexibel bleiben und immer wieder an die Entwicklungen in der Einrichtung angepasst werden, denn unter anderem müssen auch neue Kinder und Jugendliche in der Einrichtungen die Chance erhalten, dass sie die Bedingungen der Einrichtung mitgestalten können.
Die Erfahrungen zeigen auch, dass allein die Gründung eines Heimrates nicht ausreicht, damit dieser auch erfolgreich arbeitet. Die Mitglieder des Heimrates brauchen Begleitung und Unterstützung von Mitarbeiter/-innen, um in ihre Aufgabe hineinwachsen und sie erfüllen zu können. Die „Heimratsbegleitung“ der Fachkräfte besteht vor allem darin, zu motivieren, zu erklären, zu beraten und in Konflikten zu vermitteln.
Die Mitglieder des Heimrates benötigen geeignete Schulungen, wie ein Heimrat funktioniert, wie man diesen gestalten kann und welche Möglichkeiten er bietet.
Schließlich benötigt der Heimrat den Rückhalt in der gesamten Einrichtung, insbesondere auch von den Fach- und Leitungskräften. Dazu gehört z. B. auch Werbung für den Heimrat und Anerkennung des Engagements der einzelnen Kinder und Jugendlichen usw.
Ein Heimrat wird nicht für jede Einrichtung infrage kommen, da ein Delegationsmodell eine bestimmte Größe der Einrichtung erfordert. Außerdem basiert der Heimrat auf einer durch Erwachsene geprägten Beteiligungsform, die für Kinder und Jugendliche übersetzt werden muss. Um zu verhindern, dass neue Kinder und Jugendliche in der Einrichtung benachteiligt werden, sollte der Heimrat gut in der Einrichtung und den Gruppen verankert sein und über entsprechende Kooperations- und Kommunikationsstrukturen verfügen. Darüber hinaus ist eine öffentliche Kontrolle der Arbeit des Heimrates sinnvoll, z. B. durch Vollversammlungen oder durch andere Formen der Beteiligung.
2.3 Rolle der gewählten Sprecher/-innen
Häufig bilden die in den Gruppen gewählten Sprecher/-innen die Mitglieder des Heimrates. Es bestehen nicht selten Bedenken seitens der Fach- und Leitungskräfte, dass die Kinder und Jugendlichen (noch) nicht in der Lage sind, eine solche Aufgabe zu übernehmen oder aber, dass sie kein Interesse an dieser Aufgabe haben. Die Erfahrung von Heimräten zeigt aber, dass das Interesse dann vorhanden ist, wenn die Kinder und Jugendlichen das Gefühl haben, dass der Heimrat ein wichtiger Teil der Einrichtung ist und dort zentrale Fragen, die alle angehen, diskutiert werden.
2.4 Abstimmung bei Einzelfragen
Es gibt Themen in der Einrichtung, die können mit einem Delegationsmodell wie dem Heimrat nicht ausreichend behandelt werden. Dann ist eine Abstimmung aller Kinder und Jugendlichen (zusätzlich) notwendig. Ein solches Verfahren benötigt aber eine gute Vorbereitung, denn alle Kinder und Jugendlichen müssen darüber informiert werden, über was entschieden werden soll, was die Konsequenzen der Entscheidung sind und wie die Abstimmung ablaufen wird.
2.5 Vollversammlung
Bei der Vollversammlung kommen alle Kinder und Jugendlichen und Mitarbeiter/-innen einer Einrichtung zusammen. Vollversammlungen sind eine wichtige Ergänzung zu den gewählten Vertretungen. Sie bieten die Möglichkeit, alle auf denselben Informationsstand zu bringen, Informationen auszutauschen, ein Stimmungsbild zu bestimmten Themen zu erhalten und auch Abstimmungen zu organisieren. Solche Versammlungen bieten die Möglichkeit zu erfahren, was andere (z. B. aus dezentralen WGs) bewegt und Themen im „institutionellen Gedächtnis“ zu verankern.
Vor allem in großen Einrichtungen sind Vollversammlungen nicht als alleinige Partizipationsform geeignet, da die Gefahr besteht, dass einzelne Kinder und Jugendliche sich in der Versammlung kein Gehör verschaffen können und Einzelthemen nicht ausreichend differenziert diskutiert werden. Auch für die Vollversammlung sollten klare Regeln existieren (z. B. wann und wie oft findet sie statt, wer lädt ein, wer hat Rederecht, wer moderiert, was passiert mit den Ergebnissen usw.). Die Vollversammlung bietet auch die Möglichkeit, Unzufriedenheiten über den Heimrat zu äußern.
2.6 Beschwerdemanagement
Kinder und Jugendliche in Heimen und Wohngruppen leben in Einrichtungen öffentlich organisierter Erziehung. Dies stellt die Einrichtungen automatisch vor die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie sichere Orte für Kinder und Jugendliche sind. Institutionen selbst bergen aber auch immer die Gefahr, dass sie blind werden gegenüber den in ihnen bestehenden Machtstrukturen und deren Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche.
Eine wesentliche Form der Beteiligung, die jede Organisation benötigt, ist ein Beschwerdemanagement. Die sehr unterschiedliche Organisation von Einrichtungen bringt es mit sich, dass die detaillierte Ausgestaltung eines Beschwerdemanagementsystems in den einzelnen Einrichtungen nicht auf Landesebene geregelt werden kann. Vielmehr muss jede Einrichtung für sich ein angemessenes Beschwerdemanagement entwickeln. Allerdings können Kriterien formuliert werden, die ein solches Beschwerdemanagement erfüllen muss:
Wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche dieses Verfahren kennen (auch die Kinder, die noch nicht lesen können), dass sie wissen, was sie tun müssen, um ihre Beschwerde anzubringen, dass sie den Zeitraum kennen, in dem sie Antwort erhalten (z. B. bei sehr dringenden Anliegen sofort, sonst eine Woche, zwei Wochen), wer sich mit der Beschwerde befasst und was passiert, wenn die Beschwerde nicht zufriedenstellend behandelt werden kann. Es ist wichtig, dass Beschwerden ernsthaft aufgegriffen werden und auch alle Fach- und Leitungskräfte den Sinn eines solchen Verfahrens erkennen und es unterstützen. Haben Fach- und Leitungskräfte die Befürchtung, dass Beschwerden genutzt werden, um ihnen Fehler nachzuweisen oder ihnen einseitig die Verantwortung für Probleme in der Einrichtung zuzuschieben, dann werden sie ein Beschwerdemanagement nicht unterstützen. Werden Beschwerden ernst genommen, dann können Probleme und Schwierigkeiten frühzeitig erkannt werden. Es wird möglich, ihnen entgegensteuern zu können (Prävention/„Frühwarnsystem“). Beschwerdeverfahren sind somit auch ein zentrales Qualitätsmerkmal.
2.7 „Kummerkasten“
Der „Kummerkasten“ kann ein Bestandteil eines Beschwerdesystems sein. Er ermöglicht den Kindern und Jugendlichen, anonym Kritik und Veränderungswünsche an die Einrichtung zu adressieren. Der „Kummerkasten“ muss sich an einer Stelle befinden, die alle Kinder und Jugendlichen problemlos und anonym erreichen können. Das gilt auch für dezentral organisierte Einrichtungen bzw. Einrichtungsteile. Auch bei einem „Kummerkasten“ muss den Kindern und Jugendlichen klar sein, was mit den Botschaften, Wünschen und Beschwerden passiert, die in dem „Kummerkasten“ landen. Es ist selbstverständlich möglich, mehrere „Kummerkästen“ in einer Einrichtung aufzustellen.
2.8 Vorschlagswesen
Ein solches Verfahren bietet Kindern, Jugendlichen und – je nach Konzeption – auch Mitarbeitern/-innen die Möglichkeit, unkompliziert Veränderungen und Verbesserungen anzustoßen. Auch hier müssen Funktion und Verfahrenswege geklärt und beschrieben sein; die Kinder und Jugendlichen müssen darüber informiert werden einschließlich der Frage, wie sie über die Reaktion auf ihr Anliegen informiert werden.
2.9 Austausch mit anderen Einrichtungen
Kinder und Jugendliche können entscheidend in ihren Partizipationsmöglichkeiten gestärkt werden, wenn der Austausch mit Kindern und Jugendlichen von anderen Einrichtungen ermöglicht und aktiv unterstützt wird. Für Kinder und Jugendliche ist es wichtig, mit anderen Kindern und Jugendlichen mit ähnlichen Erfahrungen, ähnlichen Fragen, Interessen und Aufgaben sprechen zu können. Das gibt ihnen die Chance, sich z. B. über ihren Einrichtungsalltag, die Regeln in der Gruppe und die Erfahrungen mit dem Jugendamt auszutauschen, sich Informationen zu beschaffen und auch Unterstützung zu organisieren.
Ein solcher Austausch kann z. B. über Treffen, gemeinsame Wochenenden mit anderen Einrichtungen oder Wohngruppen, via Internet organisiert werden. Gerade die Möglichkeiten der Nutzung des Internets und im Speziellen des Web 2.0 sind diesbezüglich noch nicht ausgeschöpft. Gerade auch für Heimräte kann ein solcher Austausch mit anderen Heimräten eine wichtige Unterstützung und Motivation für ihre Arbeit sein. Der geplante Landesheimrat und die jährliche Landestagung werden ebenfalls einen wichtigen Beitrag für diesen Austausch leisten.
2.10 „Unterstützer/-innen“
Beteiligung in der Einrichtung braucht aktive „Unterstützer/-innen“, also Fachkräfte, die diesen Anspruch aktiv in die Einrichtung hineintragen und im Alltag selbstverständlich mit Leben füllen. Die Erfahrung zeigt, dass Kinder und Jugendliche zu Beginn gerade bei institutionellen Beteiligungsmöglichkeiten auf die Unterstützung von Mitarbeiter/-innen angewiesen sind, damit sie die Beteiligungsgelegenheiten kennenlernen und nutzen können.