Die Rechte von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe in Bayern
Beschluss des Landesjugendhilfeausschusses vom 10.07.2012
Anlage 1 zum Abschlussbericht des Ad-hoc-Ausschusses „Partizipation in der stationären Jugendhilfe“
Allgemein
Kinder und Jugendliche sind Personen mit eigener Würde und eigenen Rechten. Die Unantastbarkeit der Würde der Kinder und Jugendlichen ist oberster Grundsatz im Umgang mit ihnen. Kinder und Jugendliche haben das grundlegende Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (vgl. § 1 SGB VIII). Die Grundrechte sind Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der Kinder-und Jugendhilfe uneingeschränkt und unabhängig von Alter und Entwicklungsstand zu garantieren. Einschränkungen von Rechten bedürfen der richterlichen Entscheidung. Darüber hinaus haben Kinder und Jugendliche, die nicht in ihrer Familie leben können, Anspruch auf besonderen Schutz und Beistand des Staates (vgl. Art. 20 UNKRK). Kinder und Jugendliche haben das Recht, sich in allen Angelegenheiten an ihr Jugendamt zu wenden. Kinder und Jugendliche haben das Recht, (entsprechend ihrem Entwicklungsstand) an allen sie betreffenden Entscheidungen beteiligt zu werden (vgl. Art. 12 UNKRK und § 8 SGB VIII). Bei jugendhilferechtlichen und -fachlichen Fragen sind die Belange und Interessen der Kinder und Jugendlichen vorrangig zu berücksichtigen (vgl. Art. 3 UNKRK). Die erwachsenen Verantwortungsträger (von Politik, Jugendamt, Einrichtungsträger etc.) sind verpflichtet, die Rechte von Kindern und Jugendlichen in die Praxis umzusetzen (vgl. Art. 4 und 18 UNKRK). Am 15.07.2010 hat die Bundesregierung die 1992 niedergelegte Vorbehaltserklärung zurückgenommen. Damit erhielt die UN Kinderrechtskonvention völkerrechtliche Wirkung für alle in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen – bis hin zu der Begründung von individuellen Rechtsansprüchen. Insbesondere muss bei allen Maßnahmen, die Kinder und Jugendliche betreffen, deren Wohl vorrangig berücksichtig werden (vgl. Art. 3 UNKRK).
Die Rechte von Kindern und Jugendlichen gelten bedingungslos. Grundsätzlich finden Individualrechte ihre Grenzen dort, wo die Rechte anderer Menschen beginnen. In Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ist es daher Aufgabe aller Beteiligten, dafür zu sorgen, dass die individuellen Rechte aller Kinder, Jugendlichen und Mitarbeiter/-innen/Erwachsenen gewahrt sind und das Wohl aller berücksichtigt und nicht beeinträchtig wird.
Schutz und Prävention
Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Schutz vor (physischer, psychischer und sexualisierter) Gewalt (vgl. auch Art. 34 UNKRK, § 1631 Abs. 2 BGB). Sie haben den Anspruch darauf, dass alle an ihrer Erziehung, Betreuung und Förderung Beteiligten zusammenarbeiten. Das Kindeswohl ist dabei das handlungsleitende Prinzip (vgl. auch Art. 3, 6, 19 und 36 UNKRK). Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, in Obhut genommen zu werden und den Anspruch, dass unverzüglich eine Person ihres Vertrauens benachrichtigt wird (§ 42 SGB VIII).
Kinder und Jugendliche haben das Recht auf eine bestmögliche Gesundheitsversorgung und -prävention (vgl. Art. 24 und 33 UNKRK) einschließlich des Rechts auf eine freie Wahl von Ärzten/-innen.
Hilfeplanung
Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Mitwirkung und Beteiligung an ihrer Hilfeplanung. Ihr Wille ist auch bezüglich Ort und Ausgestaltung der Hilfe zu berücksichtigen. Heimerziehung beginnt nicht im Heim, sondern schon in der Planung davor. So haben Kinder und Jugendliche das Recht, bei der Auswahl der Einrichtung beteiligt zu werden (vgl. § 36 SGB VIII). Sie haben das Recht auf regelmäßige Hilfeplangespräche. Sie haben auch das Recht, ungestört und unter „vier Augen“ mit ihrem Jugendamt zu sprechen. Das Jugendamt muss für die ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen angemessen erreichbar sein (vgl. auch Art. 25 UNKRK und § 36 SGB VIII). Kinder und Jugendliche haben auch das Recht auf einen Beistand im Hilfeplangespräch (§ 13 Abs. 4 SGB X), z. B. dann, wenn sie sich durch die anwesenden Personen (Eltern, Betreuer/-innen, Jugendamt) nicht ausreichend unterstützt fühlen.
Familie
Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Kontakt und Beziehung zu ihrer Familie. Sie haben einen Anspruch auf Umgang mit beiden Elternteilen, Geschwistern, Großeltern, eigenen Kindern und anderen Personen, zu denen eine besondere Beziehung besteht. Sie haben den Anspruch, dass sich die Eltern für sie einsetzen und die Interessen ihrer Kinder vertreten. Kinder und Jugendliche haben das Recht darauf, dass das Jugendamt ihre Eltern in die Hilfeplanung mit einbezieht (vgl. auch Art. 5, 9 und 18 UNKRK).
Die Verantwortung für die Erziehung der Kinder und Jugendlichen liegt (in der Regel) bei den Eltern. Leben Kinder oder Jugendliche für längere Zeit in einer stationären Einrichtung der Kinder-und Jugendhilfe, sollte eine Vereinbarung zwischen Eltern und Einrichtung getroffen werden, wie alltägliche Angelegenheiten geregelt und entschieden werden (vgl. § 1688 BGB). Kinder und Jugendliche haben das Recht, dass diese Vereinbarung einvernehmlich erfolgt, dass sie bei der Vereinbarung beteiligt werden, und dass sie schriftlich festgehalten wird.
Bildung
Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Bildung. Sie haben das Recht auf Unterstützung bei der Entdeckung ihrer Begabungen und Interessen im schulischen, beruflichen und außerschulischen Bereich. Sie haben das Recht, dass ihre Begabungen, Talente, Interessen und Hobbys gefördert werden. Sofern nicht maßgebliche Gründe dagegen sprechen, sollen der Schulbesuch und die Berufsausbildung außerhalb der Einrichtung erfolgen, damit ein größeres Bildungs- und Ausbildungsangebot zur Verfügung steht und der Kontakt zum sozialen Umfeld gefördert wird (vgl. auch Art. 28 und 31 UNKRK).
Gleichberechtigung
Mädchen und Jungen haben das Recht auf Gleichberechtigung. Diskriminierung von Mädchen oder Jungen wegen ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer kulturellen und sexuellen Orientierung und ihrer körperlichen sowie seelischen Beeinträchtigungen ist verboten (vgl. Art. 2, 23 UNKRK sowie die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen).
Glaubens- / Bekenntnis- / Religionsfreiheit
Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Gedanken-, Gewissens-, Glaubens- und Bekenntnisfreiheit. Sie sind in religiösen und weltanschaulichen Bekenntnissen frei. Sofern sie einer Religionsgemeinschaft angehören, haben sie das Recht, ihre Religion auszuüben. Die Erziehung in einer bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Grundrichtung rechtfertigt es nicht, Kinder oder Jugendliche zu religiösen oder weltanschaulichen Handlungen oder Übungen zu zwingen (vgl. auch Art. 14 UNKRK).
Information und Meinungsfreiheit
Kinder und Jugendliche haben das Recht, sich umfassend zu informieren und umfassend informiert zu werden. Sie haben das Recht, sich frei in Wort, Schrift und Bild zu äußern und angehört zu werden (vgl. Art. 12, 13, 16 und 17 UNKRK). Sie haben das Recht auf die Wahrung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (das sowohl eingehende als auch ausgehende Post umfasst, Art. 10 GG).
Das Recht auf Information soll durch die Bereitstellung entsprechender Literatur, Zeitungen, moderner Kommunikationsmittel wie Internet gefördert werden. In der Wahl ihrer Lektüre dürfen Kinder und Jugendliche nicht über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus eingeschränkt werden. Sie sollen aber durch Anleitung zu einer kritischen Auseinandersetzung angeregt werden.
Eigentum
Kinder und Jugendliche haben das Recht, Eigentum im Rahmen ihrer Geschäftsfähigkeit zu erwerben, es so zu verwahren, dass es anderen nicht zugänglich ist, und frei darüber zu verfügen. Über das dem Kind bzw. dem/der Jugendlichen zustehende Taschengeld kann er oder sie frei verfügen. Abzüge vom Taschengeld als Mittel der Bestrafung sind nicht zulässig. Hat das Kind oder der/die Jugendliche einem/r anderen oder einer Sache einen Schaden zugefügt und wird es aus pädagogischen Gründen für notwendig erachtet, ihn oder sie die Schadensregulierung mittragen zu lassen, muss dies dem jungen Menschen erklärt werden (vgl. auch Art. 49 AGSG). Außerdem ist darauf zu achten, dass das Kind oder der/die Jugendliche in der Befriedigung seiner/ihrer Bedürfnisse nicht übermäßig eingeschränkt wird (vgl. auch Art. 16 UNKRK).
Beteiligung
Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Beteiligung. Die Einrichtung, in der sie leben, hat die Pflicht, geeignete Verfahren der Beteiligung zu entwickeln und anzuwenden (vgl. § 45 SGB VIII). Beteiligung/Partizipation ist das zentrale Prinzip der Demokratie. Eine moderne Erziehung, die von diesem Prinzip geleitet ist, unterstützt eine möglichst große Selbstbestimmung des jungen Menschen. In der Einrichtung sollen junge Menschen u. a. bei Entscheidungen über
- Gestaltung und Ausstattung von Räumlichkeiten
- Wahrung der Privat-und Intimsphäre
- Übernahme von Verpflichtungen im Rahmen des Heimlebens
- Freizeitgestaltung
- Kontakte innerhalb und außerhalb des Heims
- Besuchsregelungen
- Urlaub
- Umzüge
- die Weiterentwicklung der Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten
beteiligt werden.
Beschwerde
Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Beschwerde. Die Einrichtung, in der sie leben, hat die Pflicht, geeignete Beschwerdeverfahren zu entwickeln und anzuwenden (vgl. § 45 SGB VIII). Wird der Beschwerde einrichtungsintern nicht abgeholfen, haben Kinder und Jugendliche das Recht, sich an ihr Jugendamt und/oder an die für die Aufsicht zuständige Stelle zu wenden. Kinder und Jugendliche haben das Recht, dass ihnen die entsprechenden Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner in der Einrichtung, bei ihrem Jugendamt und in der für die Aufsicht zuständigen Stelle bekanntgegeben werden.
Interessenvertretung
Geeignete Verfahren der Beteiligung und Beschwerde schließen Modelle der Interessenvertretung ein. Der Aufbau und der „Betrieb“ von Interessenvertretungen sind von der Einrichtung, insbesondere von der Einrichtungsleitung und den beauftragten Fachkräften, zu unterstützen. Die jeweilige Form der Interessenvertretung muss auf die Größe und die Konzeption der Einrichtung und das Alter der Kinder und Jugendlichen, die in ihr leben, bezogen sein und regelmäßig unter Beteiligung der Kinder und Jugendlichen weiterentwickelt werden (vgl. auch Art. 15 UNKRK).
Akten, Berichte und Dokumentation
Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Einsicht in ihre Akte, davon ausgeschlossen sind nur jene Teile, die Informationen über Dritte enthalten. Der Inhalt von Berichten, die die Einrichtung zu erstellen hat, sind mit dem Kind oder dem/der Jugendlichen zu besprechen. Das Jugendamt stellt dem Kind oder dem/der Jugendlichen eine Kopie der Hilfeplanprotokolle zur Verfügung. Das Kind oder der/die Jugendliche soll bei Bedarf die Gelegenheit erhalten, die Unterlagen durch eine eigene Darstellung zu ergänzen.
Datenschutz
Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Schutz ihrer persönlichen Daten (§§ 61 – 68 SGB VIII). So dürfen persönliche Daten und Informationen nur erhoben und gespeichert werden, wenn sie für die Erfüllung der Aufgabe nach dem Sozialgesetzbuch wirklich erforderlich sind. Erforderliche Daten und Informationen dürfen – bis auf wenige gesetzlich festgeschriebene Ausnahmen (§ 62 Abs. 3 SGB VIII) – nur bei den Betroffenen selbst, also auch den Kindern und Jugendlichen, erhoben werden. Dabei sind die Betroffenen über die rechtliche Grundlage und den Zweck der Erhebung sowie die Verwendung der Daten aufzuklären, soweit diese nicht ohnehin offenkundig sind. Sozialdaten dürfen zu dem Zweck, zu dem sie erhoben wurden, grundsätzlich auch genutzt und weitergegeben werden. Eine Datenweitergabe im Rahmen des § 69 SGB X ist jedoch nur zulässig, soweit dadurch der Erfolg einer zu gewährenden Leistung nicht infrage gestellt wird. Besonderen Vertrauensschutz genießen Sozialdaten, die zum Zwecke der persönlichen und erzieherischen Hilfe ausdrücklich anvertraut wurden. Sie dürfen nur mit Einwilligung des Anvertrauenden oder in den in § 65 SGB VIII abschließend genannten Fällen weitergegeben werden.
Quellen:
- Bayerischer Landesjugendhilfeausschuss: „Fachliche Empfehlungen zur Heimerziehung gemäß § 34 SGB VIII“ vom 08.04.200
- Hessischer Landesjugendhilfeausschuss: „Grundrechte und Heimerziehung“ vom 10.11.2000
- UN KRK (vom 20.11.89; am 05.04.92 für Deutschland in Kraft getreten; Rücknahme der Deutschen Vorbehaltserklärung am 15.07.2010)
- National Coalition: Nach der Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung: Was bedeutet die uneingeschränkte Verwirklichung des Kindeswohlvorrangs nach der UN-Kinderrechtskonvention im deutschen Recht? 2010